Heft 
(1907) 15
Seite
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12. (6. ordentliche) Versammlung des XV. Vereinsjahres.

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Ein Freund der Natur, wie es Heinrich Seidel war, hatte er sich vor elf Jahren aus dem Lärm der Weltstadt in die Stille seines Eigen­heims in Groß-Lichterfelde gerettet. Dort lebte und lauschte er der Natur und studierte die Sprache der Vögel, die er ebenso gründlich zu kennen behauptete, wie das Geheimnis des Schüttelreims. In den lustigen Schüttelreimen, die er zumAeolsharfenkalender gestiftet, kam sein frischer Humor zur Geltung. Heinrich Seidel sah nicht aus, wie die Menge sich einen Dichter vorstellt. Die große, breitschultrige Gestalt init den klaren Augen und die Trinkfestigkeit des still aber gründlich den Wein prüfenden stattlichen Mannes sah nicht so aus, wie ein Poet, dessen Ideal ein Leberecht Hühnchen war. Er war ein guter Kumpan unter seinen Berufsgenossen, und an den Abenden derLiterarischen Gesellschaft, bei denen er nie fehlte, fühlte er sich behaglich. Aber auch dort war er oft ein Meister des Schweigens, wie Moltke, der einst von Seidels Urgroßvater getauft, ein warmer Verehrer von seines Land- inanns Dichtungen war. Das tat Heinrich Seidel ebenso wohl, wie die Verleihung des philosophischen Ehrendoktors seitens seiner Heimats­universität Rostock. Sonst war er weltlichen Ehrungen gegenüber kühl. Er war durchaus ein innerlicher Mensch, der sich mit der Heiterkeit des Herzens da am wohlsten fühlte, wo er gesunden Sinn und tiefe Emp­findung ahnte. So wird die Nachwelt, wenn sie seine Dichtungen liest, ihn würdigen mit den Versen seines Leberecht:

Aus Haß und Hader, Tageslärm und Mühn Kommt mit mir, wo die stillen Blumen blühn.

Kleinleben Stilleben, wie man es in unserer ewig tastenden nimmer rastenden Zeit, wenn man in dasselbe als ein Rad im großen öffentlichen Maschinengetriebe mit rotieren muß, gern geschildert liest. Das ist der Grundton, der sich durch fast alle seine Dichtungen zieht, mitunter fast ein wenig ermüdend, aber doch im Grunde immer lieb und lauschig, das fühlt man bei seinen Naturidyllen so, bei seiner Menschengeschichte und so auch bei seinen allerliebsten, rührenden Tier­geschichten von Spatzen, Hunden und Pferden. Trefflich hat er überall das innerste Wesen unserer Heimat erfaßt und geschildert.

Am 7. d. M. verschieden an den Folgen einer schweren Operation im Kreis-Krankenhaus zu Groß-Lichterfelde ist er in diesem Vorort, wo wo er ein anmutiges umgrüntes Anwesen besaß, auch bestattet worden.

Die Gemeinde Groß-Lichterfelde hat dem Dichter, der ein Jahr­zehnt ihr Bürger gewesen, die letzte Ruhestätte an einer Ehrenstelle bereitet; hier wurde der Erde übergeben, was sterblich war an Heinrich Seidel.

Geboren ist er am 25. Juni 1842 zu Perlin in dem Örtchen, dessen Ähnlichkeitsklang mit Berlin von ihm und seinen Freunden so oft freund­lich belächelt worden ist.