Heft 
(1907) 16
Seite
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5. (2. ordentliche) Versammlung des XVI. Vereinsjahres.

Umwege, zu denen die Natur in der Stammesgeschichte einmal gezwungen war. Diese Gesetzmäßigkeit hat man als das biogenetische Grund­gesetz bezeichnet, das man etwa formulierte: die Keimesentwickelung ist eine abgekürzte Wiederholung der Stammesentwicklung. Diese Ab­kürzungen bedingen vielfach Abweichungen. Jede Stufe der Stammes- geschichte wurde durch ein lebensfähiges Tier bezeichnet, in der Keimes- entwickeluug beginnt die volle Harmonie der Organe, die zur Lebens­fähigkeit gehört, erst mit dem Augenblick, wo die ausgeprägte Menscheuform erreicht ist. Die Keimesgeschichte bildet daher ein wichtiges Hilfsmittel für die Ermittelung der Ahnenreihe, aber sie muß mit Vorsicht angewendet werden. Die Ausbildung des Kopfes gibt ein Beispiel. Das menschliche Kind wie der junge Affe haben 'einen ver­hältnismäßig viel größeren Kopf, als die erwachsenen Formen ihrer Arten. Es wäre aber falsch, daraus zu schließen, daß sie von Formen mit größeren Köpfen abstammten. Die Fossilfunde beweisen das Gegen­teil. Das Gehirn entwickelt sich eben verhältnismäßig früh, und so ist es im Anfang in starkem Übergewicht gegenüber dem übrigen Körper. Das hat aber nur physiologische, nicht genealogische Bedeutung. Ein weiteres Hilfsmittel für die Stammesgeschichte des Menschen und der Wirbeltiere ist die Ermittelung der Verwandtschaften unter ihnen, die sich aus dem Vergleich ihrer einzelnen Organe ergibt, die sogenannte vergleichende Anatomie. Betrachten wir beispielsweise die Extremitäten des Menschen unter diesem Gesichtspunkte, so ist es auffallend, wie ähnlich sowohl Hand als Fuß denjenigen Urformen sind, aus denen wir alle speziellen Extremitätenbildungen unter den Wirbeltieren ab­leiten müssen.

Eine der speziellsten Ausbildungen solcher Art ist die Entwicke­lung der Beine bei den Einhufern. Hier ruht das Körpergewicht auf einzelnen festen Säulen, die dadurch entstehen, daß die Mittelzehe allein, dafür aber um so stärker, ausgebildet wird. Aber auch am Pferdefuße kann man die Überreste der fast vollständig verschwundenen übrigen vier Zehen noch in den Knochenleisten erkennen, die dem Metacarpus bezw., Metatarsus an der Wurzel anliegen. Bei den Vorfahren der Pferde, aus denen wir zahlreiche Entwickelungsstnfen kennen, läßt sich das allmähliche Verschwinden der seitlichen Zehen verfolgen, und im Anfänge der Tertiärzeit werden wir auf Tiere zurückgeführt, die fünf­zehige Vorder- und Hinterfüße besaßen. Diese Urhuftiere (Condylarthra) sind in ihrem Bau auch den Urraubtieren sehr ähnlich, von denen die ganze Entwickelnngsreihe der Raubtiere ausgeht, und wir müssen ähn­liche Formen als die Urtypen ansehen, aus denen sich die verschiedenen Stämme der Säugetiere und so auch Affen und Menschen entwickelt haben.