Heft 
(1902) 10
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19. (9. ordentliche) Versammlung des IX. Vereinsjahres.

der Hauptsache Buchdruckerei war und als solche verschiedensten Zwecken diente, gab er ihm jene bestimmte Sonderrichtung, welcher es seinen späteren Weltruf verdankt. Gustav Kühn war ein strebsamer Kopf. Er lernte in seiner Jugend bei Professor Gubitz in Berlin das Holzschneiden, besuchte gleichzeitig die Akademie, interessierte sich lebhaft für die damals neu erfundene Kunst des Steinzeichnens und Steindruckens, und richtete bald nach Übernahme des Geschäfts Stein­druckerei ein. Durch Anwendung der leichteren, freieren lithographi­schen Technik erfuhren die Bilderbogen eine erhebliche Verbesserung. Obgleich aber Senefelder schon gegen Mitte der zwanziger Jahre litho­graphischen Farbendruck ausübte, wurde in Neu-Ruppin das Schablonen- Kolorierverfahren, in welchem die Arbeiter bedeutende Übung erlangt hatten, beibehalten.

Etwa vom Jahre 1880 an hatte Gustav Kühn einen tüchtigen Mit­arbeiter an dem Hofmaler Bülow, dessen Sohn später ebenfalls mehrfach Bilderbogen-Zeichnungen lieferte. Die Bülows hatten Wohnung und Werkstatt im königlichen Schlosse zu Berlin; sie waren beide im Stein­zeichnen geübt, und so kam es, dass eine Zeit lang die Platten zu den Neu-Ruppiner Bilderbogen aus dem stolzen Königsschloss an der Spree hervorgingen. Friedrich Wilhelm IV., der für Kunst und Kunsttechnik viel Sinn und Verständnis hatte, interessierte sich auch für den in seinem Schlosse betriebenen Kunstzweig und besuchte öfters die Werkstatt.

Weltberühmt ist die Firma aber hauptsächlich durch ihre bunten Bilderbogen geworden. Ihre eigentlichen Bilderbogen zerfallen in mehrere Hauptgruppen. Da giebt es solche mit zusammenhanglosen kleinen Bildern mit und ohne -Text, Soldatenbogen, Märchenbilder mit begleitendem Text, humoristische Märchen-, Tier- und Pflanzenbilder, Ankleidefiguren, Modellierbogen, Theaterbilder, Gesellschaftsspiele u. s. w. Einige Bogen zeigen je ein farbiges und ein Umrissbild nebeneinander; sie sind zu Tuschübungen bestimmt; daneben giebt es Drachen- und Scheibenbilder, Vorlagen zu Laubsägearbeit und Kerbschnitt, Riesen- Ziehfiguren und lebensgrosse Tierbilder. Überall waltet nach dem alten Volksliede der Grundsatz:

Bunte Farbe lieb ich traun,

Sonderlich die rote.

Eine Abteilung für sich bilden die Spiele und Bilderbücher, die Zauber-, Traum- und Wahrsagekarten. Geheimnisvolle Dinge sind darunter, wie dassiebenmal versiegelte Buch mit unfehlbarer Aus­legung der Träume und dieZauberkarten des Nostradamus, mit deren Hilfe man einer jeden Person sagen konnte, wie alt sie ist und wieviel Geld sie bei sich hat; fernerBriefsteller für Liebende mit wunder­baren, blumenreichen Briefen, und zahlreiche Komplimentierbücher.