Dr. E. v. Freydorf, Neidkopf und Krone zu Berlin.
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der „Gast“ genannt; in Kissingen heisst ein verwandter Kopf am. Rathause „Jud Schwed’“; zu Schwei nfurt ward einst der zungereckende Lollus gleich einem Heidengötzen gefeiert; ein Festzug gilt in Emmerich dem mit bleckendem Maul dargestellten Mann, dessen schreckhaftes Auftreten die Stadt aus Feindesgefahr gerettet hat; zu Rapper tswyl „schreien“ drei solcher Köpfe „Mord und Weh“ gegen die Zerstörerin Zürich mit geöffnetem Mund, und gelten als vom Stadtherrn verliehen. Zu Aalen, Heidingsfeld und Jena nimmt je ein maulsperrender Automatenmann den Rang des städtischen Wahrzeichens ein.
In Mainz endlich nannte die Kinderwelt einen zungereckenden Mannskopf am dortigen Neuthor, den unfreiwilligen Genossen ihrer äpfelwerfenden Spiele, den „Neidkopf“. Der Kopf ist heute über einem Kasematteneingang in der Nähe eingemauert. Bis jetzt ist es der einzige dieses Namens ausser Berlin. Weitere Überlieferung für ihn fehlt. Doch bildet der Mainzer Kopf durch Namen und Darstellung einerseits, durch seine Aufstellung am städtischen Hauptthor andererseits, ein Verbindungsglied zwischen der südwestdeutschen Gruppe und Berlin.
Die südwestdeutschen Köpfe erwiesen sich nun, bei anderer Gelegenheit, (Mitteilung des Verf. in der histor. Gesellschaft in Basel am 3. Dezember 1900, vgl. Allg. Schweizer Ztg. v. 5. Dez. 1900) als Darstellungen des sog. „Gerüftes“, einer im frühen Mittelalter allgemein verbreiteten, heute bis auf die wenigen Namen und Redewendungen der damit befassten Sagen vergessenen Rechtssitte.
„Gerüfte“ hiess zunächst im allgemeinen der Alarm, wie er bei feindlichem Überfall, auch bei Blutthaten innerhalb der Stadt, erscholl und die Bürger zu den Waffen rief. Als Alarmzeichen ist uns heute noch die „Sturmglocke“ bekannt; sie war als solches auch im Mittel- alter gelegentlich im Gebrauch. Im besonderen hiess aber „Gerüfte“ damals der mündlich ausgestossene Alarmruf. Zum mündlichen Gebrauche dienten besondere, meist altertümliche und noch unerklärte Alarmworte, wie in Sachsen das „Judute“, in Thüringen „Zeeter“ am Rhein das Wort „Heilall“.
Diesen Gerüfteworten kam auch sonst eine besondere, feierliche Bedeutung zu. Das jeweilige Gerüftewort oder -Zeichen ertönte, auch wo Gefahr nicht vorlag, zu bestimmten Staatshandlungen, Vollstreckungsakten, Klagerhebungen, soweit solche die Anwesenheit oder Zeugenschaft der gesamten Bürgergemeinde erforderten. Des Gerüftesignals als unbedingt zum Erscheinen verpflichtenden Rufes bediente .sich die Obrigkeit zum Aufgebote der Pflichtigen in Angelegenheiten des Heerwesens, des Gerichts- und Polizeibannes. Das Gerüfte konnte mithin als Träger und Zeichen der Staatsgewalt in diesen drei Richtungen, und, da in diesen drei „Aufgeboten“ die Zuständigkeit des mittelalterlichen Staates