Heft 
(1911) 19
Seite
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Kleine Mitteilungen.

Ist das Moderne immer praktisch? Wie billig ist neuerdings durch unsern glatten Fassadenbaustil das Bespötteln der reichen Stückfronten unserer alten Häuser geworden, die doch als Baumaterial den heimatlichen Gips zu Ehren und Ansehen bringen konnten. Sind denn tatsächlich die neuzeitlichen Häuserfronten, aus allerlei Cementputz und Kunststein hergestellt, materialechter geworden, trotz ihrer hochtrabenden Namen? Man beachte nur die Ornamentik, die bei Gips noturwahrer ein plastisches Bild von Weitem hergibt, während die unausgearbeitete Steinmetzarbeit des Kunststeins uns zum Raten und Deuten aus kürzester Entfernung nötigt, ganz abgesehen von der dabei beliebten Symbolik.

Besonders die Vernachlässigung der Quergliederung macht bei städtischen Wohngebäuden die moderne Bauweise in'sanitärer Beziehung bedenklich, sie gleicht darin einem glattrasierten Männerantlitz, das des­wegen fremdartig und wohl für uns Deutsche interessant wirkt.

Man braucht sich nur auf seine Nase zu verlassen, so lange noch das Fenster als Hauptventilator des Zimmers gilt, und man wird bemerken, daß unsere alten reichgegliederten Fassaden garnicht so kreuzdumm mit ihren Verdachungen und .Gesimsausladungen durchdacht waren. Die Fenster­dachung z. B. lenkt den Ausfluß der verbrauchten Luft aus den unten­liegenden Fenstern entquellend von der Hausfront fort und verhindert das Einziehen dieser ungeeigneten Luft in die oberhalb gelegenen, zum Zwecke der Lufterneuerung geöffneten Fenster. Deshalb sollte man besonders die Fenster der Küchen, Klosett und Schlafzimmer, also gemeinhin die Hinter­front mit weitausladender Gliederung versehen oder mit rankendem Laub­werk zu versehen suchen als Notbehelf.

Auch die engen Berliner Höfe, sofern sie von unten nur Zuzug haben sind als Lufterneuerer nicht zu verachten. Weshalb bevorzugt der Süden die enge Straßenführung, damit der Sonnenglast die Lufterneuerung bei übergroßer Straßenbreite nicht verhindert, wie auch die Straßenzüge von Ost nach West bekanntlich viel gesünder und kühler gelten. Hohe Gebäude­teile wie zum Beispiel Kirchtürme gelten als vorzügliche Ventilatoren für ganz enge Plätze, weil an ihrem Fuße durch die ungleiche Bestrahlung der hochragenden Teile immer ein erfrischender Lufthauch, selbst an den schwülsten Sommertagen, weht wie umgekehrt im Winter.

Die Bauern wußten ehedem sehr gut, weswegen sie an den Scheidungen und Rainen der Felder hochragende Birnbaumwildlinge (Knödelbäume) liebe­voll schonten. Man braucht nur in der Nähe eines solchen Baumes, der durch seine Höhe die Luftzirkulation im Blachfelde besorgte, eine Mittags­rast genossen zu haben, um am eigenen Leibe zu erfahren, daß auch unsere Altvorderen Praktiker waren. Karl Wilke

Für die Redaktion: Dr. Eduard Zache, Cüstriner Platz 9. Die Einsender haben den sachlichen Inhalt ihrer Mitteilungen zu vertreten.

Druck von P. Stankiewicz Buchdruckerei, Berlin, Bemburgerstr. 14.