Heft 
(1911) 19
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Der Rabe in der Volkskunde.

Vortrag gehalten in der Brandenburgia-Sitzung vom 15. Dezember 1909 von Elisabeth Lemke.

Geehrte Anwesende, es ist lange her, als der Rahe (Corvus corax) in hohen Ehren stand; so lange ist es her, und so vieles hat sich für ihn verändert, daß man (abgesehen von der Naturgeschichte) den Raben fast nur noch mit unfreundlichen Worten erwähnt, falls man nicht einen solchen Vogel zum Hausgenossen erkor und ihn abrichtete. Dann aller­dings erscheint es einem nicht mehr so ungeheuerlich, daß der Rabe einst das Sinnbild der Allwissenheit gewesen sei.

Jung aufgezogen läßt er sich leicht zähmen und zum Sprechen ab- richten. Seine Baßstimme eignet sich sehr gut zu deutlicher Wiedergabe der Worte. 1 )

Ich möchte nun zwar nicht den Vorschlag machen, statt der beliebten Kanarienvögel es einmal mit den mißachteten Raben zu versuchen; ich will mich nur eine kleine Weile hier mit dem Raben beschäftigen, flog er mir doch seit der Jugendzeit sozusagen immer wieder in den Sinn. Dafür wäre wohl die geliebte Märchenwelt verantwortlich zu machen, in der sich ungezählte Raben auszeichnen, prophetenmäßig auftretend und Wunder verrichtend.

Odins 2 ) Raben, Hugin und Munin a ) (Denkkraft oder Erkenntnis; und Erinnerung 4 ) übertrafen zwar nicht ihre Vettern in den landläufigen Volksmärchen, die uns allen bekannt sind, wohl aber wie jene alle wirklichen, aus Rabeneiern zur Welt gekommenen Vögel. Sie gingen Tag für Tag wohlgemut an ihre Riesenarbeit, Berichterstatter über alles

') C. G. Friderich, Vollständ. Naturgeschichte d. deutsch. Zimmer-, Haus- u. Zugvögel. (Stuttgart, K. Thienemann; 1863.) 2. Aufl. S. 421 f. ä ) Odhin.

3 ) Huginn u. Muninn.

') Grimm.

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