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Elisabeth Lemke.
Noch einmal hat der Rabe mit der Geistlichkeit in freundlichen Beziehungen gestanden; nämlich bei Kappeln in Angeln. Man wollte eine Kirche bauen, das Geld lag schon bereit, aber man konnte sich nicht über den Platz einigen. Da schickte man zwei Mönche aus, solchen Platz ausfindig zu machen; die aber wußten keinen bessern Ausweg, als inbrünstig zur Jungfrau Maria um ein Zeichen zu flehen. Sofort flogen ein Paar Raben über ihre Köpfe dahin, um sich dann an einer Stelle niederzulassen, wo denn auch die Kirche aufgeführt wurde. Als sie fertig war, kamen die Raben wieder. Sie setzten sich an der Westseite der Kirche nieder und — waren sogleich in Stein verwandelt, ohne ihre Gestalt zu verändern, wie man noch heute sehen kann. Die Kirche bekam danach den Namen „Rabenkirche“ 1 ).
Mittelalterliche Prediger deuten den Rabenruf „cras“ (lat. morgen) auf den unbußfertigen Sünder. (Joh. Bolte.)
Martin Luther wurde nachgesagt, daß ein Rabe auf seiner Schulter säße; dasselbe behauptete man von Albertus Magnus und Berthold Schwarz. 2 )
Das Nest der Raben besteht zwar nur aus Reisern, Erde oder Lehm, Moos und Tierhaaren, aber der an Zauberkräfte Glaubende bemüht sich, das schlichte Nest sorgfältig zu untersuchen, um einen kleinen, kostbaren Stein zu finden, der unsichtbar macht. — Man kann solchen „Rabenstein“ aber auch dadurch gewinnen, daß man mehrere Eier aus dem Neste nimmt, sie hart siedet und dann wieder zurückbringt. In diesem Falle holt nämlich der Rabe aus dem Meer einen Stein, mit dem er die hartgesottenen Eier berührt, was seinen Jungen das Ausschlüpfen ermöglicht. Wer solchen Stein an sich bringt und in den Mund nimmt, versteht die Sprache der Vögel. 3 ) — In faeröischen Märchen trägt der Rabe den wunderbaren Stein (von dem kein Mensch weiß, wo er zu finden wäre) wieder an seinen Platz zurück; und daher ist es Hauptbedingung, den Raben beim Holen des Steines zu beobachten und beim Herbeibringen desselben zu erschießen, oder ihn auf dem Nest zu überfallen, bevor die Eier ausgebrütet sind; denn nach dem Ausbrüten würde der Rabe den Stein zurücktragen. (Das Erschießen wäre ja auch dann noch von Vorteil!!) Der Stein wird dort „Siegstein“ genannt; er schützt vor bösen Menschen und Trollen und schafft das Glück herbei. 4 5 ) — In Tirol sagt man: wer einen solchen Stein in einem Ring trägt, kann die stärksten Ketten zerreißen und verschlossene Türen aufsprengen, wenn er sie mit dem Stein berührt. 6 )
‘) Wohlthat, a. a. 0.
2 ) Wohlthat, a. a. 0.
*) Freytag, a. a. 0.
4 ) 0. L. Jiriczek, Faeröische Märchen u. Sagen. (Z. d. V. f. Volksk.; 189:1.) S. 1 f.
5 ) Adolf F. Dörler, Die Thierwelt i. d. sympathetischen Tiroler Volksmedizin.
(Z. d. V. f. Volksk.; 1897.) S. 170.