Heft 
(1911) 19
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23. (16. außerordentliche) Versammlung den XVIII. Vereinsjahres.

Die hohe Protektorin interessiert sich lebhaft für das gemeinnützige Lette-Haus. Ihre Majestät und die Prinzessin Viktoria Luise, in deren Begleitung sich die Gräfin Keller, die Hofdame Fräulein von Saldern und Graf Carmer befanden, besichtigten vor drei Tagen zwei Stunden das Lette- Haus. Empfangen von den Jubelrufen der vielhundertköpfigen Schülerinnen­schar, nahmen die hohen Herrschaften unter Führung der Vorsitzenden, Frau Prof. Kaselowsky, anderer Damen des Vorstandes und der Direktorin, sämtliche Institute des Lettehauses in Augenschein. Die Kaiserin und die Prinzessin gingen mit regstem Interesse durch die in vollem Betrieb befind­lichen Klassen der Koch-, Gewerbe-, Handels- und Haushaltungsschulen, wohnten in der Handelsschule einer kurzen Lektion bei, und sprachen überall ihre Anerkennung und Befriedigung aus. In der Photographischen Lehranstalt, in der ein Imbiß eingenommen wurde, erfolgte die Aufnahme einer farbigen Photographie der Prinzessin. Auch der Kindergarten der Haushaltungsschule hatte sich des Besuches der hohen Gäste zu erfreuen. Den Schluß der Besichtigung machte die Buchbinderschule.

Bei der Brandenburgia-Besichtigung heut erwähnte Herr Geheimrat Friedei gelegentlich, daß Wilhelm Adolf Lette am 10. Mai 1799 in Kienitz a. O. geboren sei und machte auf die von ihm (Herrn Friedei) 1907 herausgegebenenJugenderinnerungen Gustav Partheys, eines Enkels des berühmten Berliner Buchhändlers Friedrich Nicolai auf­merksam, weil sie verschiedene Angaben über das Jugendleben Lettes im 2. Teil S. 206 und 267/268 enthalten. Da dies Buch alsHandschrift für Freunde nur in wenigen Exemplaren gedruckt und infolgedessen, trotz seiner Bedeutsamkeit und Reichhaltigkeit, leider wenig bekannt ist, so lohnt es wohl auf die Mitteilungen Partheys über Lette aufmerksam zu machen.

Eine Schönheit war Lette niemals, die Büste über dem Hauptportal des Vereinshauses läßt das erkennen. Man hat von Lette dasselbe wie von Voltaire gesagt: er misbrauchte das Vorrecht der Männer häßlich zu sein. Dafür besass er aber auch manches von dem Esprit des geistreichen franzö­sischen Aufklärungs-Philosophen. Lette bestand zu Ostern 1818 mit Parthey zusammen das Abiturientenexamen auf dem Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster. Parthey sagt von seinem Kommilitonen, er habe von Jugend auf eine unwiderstehliche Neigung Reden zu halten und zu disputieren gehabt. Anfänglich war Lette ein wilder Freiheitsschwärmer; während der Dienstzeit bei den Gardepionieren, die vor wenigen Tagen ihr hundert­jähriges Bestehen gefeiert, gab Parthey, der mit Lette zusammen bei der­selben Truppe diente, seinen Kameraden einen Abendschmaus. Dabei erregte sich Lette derartig, daß er ein von Folien gedichtetes revolutionäres Lied, beginnend mit den Worten:

Menschenmenge, große Mensehenwüste,

Die umsonst der ewge Frühling grüßt,