Alt-Berlinische Erinnerungen.
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und Ratskeller. Charlottenburg hat aber nach den letzten Volkszählungen die größte, prozentuale Vermehrung der Einwohnerzahl gehabt, und wenn inan heute nach dem Westen am Nollendorf- und Viktoria-Luise-Platz kommt, dann weiß man nicht mehr, wo die Grenzen von Berlin, Schöneberg und Charlottenburg anfangen oder aufhören.
Im Süden der Stadt war die ehemalige Tempelhofer Chaussee, die jetzige Bellealliancestraße, nur bis zur Teltowerstraße bebaut und an Stelle der Kaserne der 1. Garde-Dragoner lag die Pferdekoppel und Weide der Tempelhofer Bauern. Wie sich aber die Begriffe über Entfernungen auch mit den Zeiten, Umständen und Verkehrsmitteln ändern, zeigen folgende Beispiele: Als Tivoli, ein für damalige Zeiten großartiges Vergnügungslokal mit Rutschbahn usw. auf dem Kreuzberge entstanden war, da wollten die Droschkenkutscher nicht für den einfachen Preis von 5 Sgr. hinausfahren, weil dies eine Tour über Land sei! — Ein alter, etwas umständlicher Herr sagte zuweilen zu Leuten, die ihn am Vormittag besuchen wollten: „Ja, mein Verehrtester, es tut mir leid, aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr übrig, denn ich will heute noch verreisen!“ Die Reise des alten Herrn bestand darin, daß er am Nachmittag mit einem Mietswagen nach Tempelhof fuhr, um dort Kaffee zu trinken! Kreideweiß war damals in Tempelhof das einzige Restaurant, wo man einkehren konnte, und dergleichen Lokale wurden „Tabagien“ genannt.
Bekannte Straßentiguren waren vor 50 — 60 Jahren die Bücklingsfrauen, die Neunaugenmänner und die Aalmarieken, Fischkonserven gab es damals überhaupt noch nicht, und dio Materialwaren-Händler hielten nur den sauren Hering feil als notwendiges Katermittel für junge und alte Trinker. Die geräucherten Fisch waren konnten des schwierigen Landtransportes wegen nur in den kälteren Monaten von der Ostsee gebracht werden, denn eine Eisenbahnverbindung war in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts nach Norden hin nur bis Stettin vorhanden. Abends zogen die Bücklingsfrauen durch die Straßen; sie hatten einen flachen Henkelkorb mit ihrer Ware am Arm und riefen mit weithin gellender Stimme: Bicklinga, Bicklinga! ln der Neuuaugen-Saison kamen Männer aus der Odergegend; sie trugen ihre marinierten Fische in Holz- fäßchen herum und riefen dabei: Neinoogen, Neinoogen, worauf die Straßenjungen mit einem drastischen Reim antworteten, der aber nicht druckfähig ist. Im Herbst kamen uralte Fischerfrauen vom Ostseestrande mit Spickaalen nach Berlin. Sie kutschierten meist selbst ihr Gespann; der Wagen war mit einem rostfarbenen Plan von einem Gewebe überspannt, das heute noch die Ostseefischer zu den Segeln ihrer Fangboote verwenden. Am Nachmittage und Abend hielten die Aalmarieken mit ihren Wagen in der Krausenstraße, am Dönhofs-Platz oder in der Klosterstraße vor dem Lagerhause. Es war bekannt, daß sie viel vorschlugen; sie forderten für einen Mittel-Aal 1 Taler! Unser Vater sagte dann:
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