Heft 
(1893) 2
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Hie Lutchen der Niederlausitz.

samtheit, obwohl deutsche Volksbestandteile in ihr stecken, eine slavLsche Sprache spricht, nämlich das Lausitz-Serbische, wie denn die Wenden sich selbt Serben nennen, diese Bevölkerung berichtet von Alters: die Lutchen sprachen eine andere Sprache als die wendische. Folglich waren sie ein Volk vor den Wenden, und das waren die alten deutschen Bewohner, die Germanen, wie uns die Geschichte lehrt. Indessen solche Schlüsse sind hinfällig. Wenn sich zehn Bevölkerungen in der Nieder- lausitz gefolgt wären, so würde wahrscheinlich schon die zweite oder dritte von der ersten gedacht oder gefühlt haben, wie die jetzige von den Lutchen. Das alles schliesst nicht aus, dass in der Überlieferung von den Lutchen Nachrichten enthalten sind von verschiedenen Völkern oder auch von einer Urbevölkerung. Doch wissen wir von alle dem nichts. Die Überlieferung der Völker ist oft wunderbar; hatten doch die Finnen die Sage, dass die wandernden Vögel den Winter bei den Zwergen sind').

Es könnte ja wunderbar erscheinen, dass die Lutchen so vieles gewesen sein sollen, allein auch der Mensch dermodernen Gegenwart kann unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten aufgefasst und geschildert werden, je nach seinen Beziehungen und seiner verschiedenen Thätigkeit im Leben.

Sechstens aber hat man die Lutchen aufzufassen als das Volk unsrer Tage und zwar als den Teil des Volkes unsrer Tage, der sich zurückgesetzt fühlt von der einseitigen Abwirtschaft des modernen Welt­geistes. Dazu gehören alle, diejenigen, die mehr zurückgezogen für sich, im innigen Verkehr mit der Natur ihr Leben führen, wie noch heute viele Landleute, die Bewohner einsamer Haide- und Moorgegenden, auch Schiffer und Fischer, die Bewohner grosser Wälder und die Leute im Gebirge, die alle mehr oder weniger noch die Denk- und Anschauungs­weise weiterführen, die ihnen überkommen ist von den Vätern seit Jahr- hunderten und vielleicht seit Jahrtausenden, deren Hechtbewusstsein vielfach in Widerspruch steht mit der Hechtsauffassung unsrer Hechts­gelehrten, Urteilen unsrer Gerichtshöfe und Bestimmungen unsrer Ge­setzgebung, die in Treuen und in stiller Arbeit ihr Dasein verbringen, und die wir gewohnt sind als denkleinen Mann zu bezeichnen und als diekleinen Leute, wie sie thatsächlich kleine Leute nur sind, und die in den Lutchen sich wiedertinden und in dem Schicksal der Lutchen ihr eignes Schicksal sehen, weil sie wissen, dass auch sie Ver- gang nehmen und dem Untergange geweiht sind vor dem Grossstadttum uud den ihm entfliessenden Welt- und Lebensanschauungen.

1) Grimm. III. 135.

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