12. (3. öffentl.) Versammlung des V. Vereinsjahres.
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hat sich das Volk den blühenden Segenszweig den veränderten Verhältnissen entsprechend zum Mittelpunkt des Hauptjahresfestes umgebildet und ihn auch so vor dem Untergange bewahrt. Ist es doch keine seltene Erscheinung der Geschichte, dass die Form den Gedanken überdauert, der ihr das Leben gab.“
Die Vordersätze dieses Ausspruchs sind teils schief, teils geradezu unrichtig und dementsprechend ist, wie schon zu Anfang des Vortrags ausgesprochen, das Schlussergebnis, ich möchte sagen zur Ehre des Christbaums, und glücklicher Weise, völlig falsch.
Das abfällige Urteil, welches über das Christentum in Tilles Worten liegt, kann, weil auf gänzlichem Unverständnis beruhend, nur Mitleid erregen. Ganz entschieden müssen wir uns aber dagegen verwahren, als wenn das Christentum eine bereits überwundene Episode des deutschen Volkes sei. So herrlich weit haben wir es denn doch noch nicht gebracht; von dem lebendigen, freudig gedeihenden, freudig wachsenden Christentum des deutschen Stammes, so bei Katholiken wie bei Evangelischen, scheint Tille keine blasse Ahnung zu haben.
Von einem Siegeszuge des deutschen Weihnachtsbaums über die Erde kann desgleichen noch nicht entfernt die Rede sein. Es sind zumeist deutsche Auswanderer, norddeutsche Seeleute und Geschäftsleute, die „draussen“ deutsche Weihnacht mit einem Christbaum feiern. Andere Nationen machen die Sitte „draussen“ so gut wie gar nicht mit. Ausserhalb des Gebiets der deutschen Zunge kann man von einer richtigen Weihnachtsfeier mit Christbaum nur noch allenfalls in Dänemark reden; schon bei unsern Vettern in Norwegen und Schweden*) ist die Julfeier eine wesentliche verschiedene Weihnachtsfeier, desgl. in den Niederlanden. Wo in Frankreich, England u. s. f. dergleichen Versuche von einzelnen Personen gemacht wurden (z. B. von der Kaiserin Eugenie und der Königin
*) „In Schweden unbekannt, war er doch bei den Inseischweden an der russischen Küste auf Dagö und Worms im Anfänge unseres Jahrhunderts häufiger als jetzt im Gebrauch.“ Mannhardt S. 239, nach K. v. Kusswurm. Eibofolke II. S. 96 § 296. — .,In England (auch in Frankreich) fehlt dem Fest in den Familien die höhere Weihe; so religiös auch der Engländer ist, so sehr er die Freuden des Hauses im Kreise seiner Kinder liebt und so gewissenhaft er die alten Gebräuche bewahrt, so ist doch sonderbarer Weise die Sitte, einen Christbaum anzuzünden, seit etwa 40 Jahren in England ausgestorben und nur bei einsamen Dorfbewohnern, besonders in den •gebirgigen Gegenden England’s, hat sich diese fromme Sitte erhalten.“ Fr. A. Rei- m ann: Deutsche Volksfeste im neunzehnten Jahrhundert. Geschichte ihrer Entstehung und Beschreibung ihrer Feier. Weimar 1839, S. 215. Bei unseren Polen ist der Weihnachtsbaum dagegen zur Zeit vorhanden. In der Beschreibung einer Feier in einer katholischen polnischen Dorfkirche lese ich soeben: „Die Kirche hatte Bich schon reichlich gefüllt. Auf dem Altar brannten alle Kerzen, und von oben herab leuchtete eine wie ein Stern. Tannenbäume standen zu beiden Seiten des Altars und längs den Bänken, so dass die Kirche den Eindruck eines Waldes machte, aus dem die mit Reif [wegen der bittern Kälte] bedeckten Stämme glänzend weiss hervor-
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