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20. (8. ordentliche) Versammlung des XIII. Vereinsjahres.
wenig den Verstand und die Urteilskraft wecke und zu sehr nur ein Auswendigwissen sei, während doch schon Thoinasius ausgesprochen hatte, daß ein Lot Iudicium mehr wert sei als ein Pfuud Memoria. Sodann aber vermißten sie besonders die rechte Einwirkung des Schulunterrichts auf die Gesinnung und den Willen, auf den Trieb, gemeinnützig zu wirken, und endlich beklagten sie, daß das Volksschulwesen noch völlig daniederlag.
Aber wenn auch so allmählich die Erkenntniss wuchs, daß die alten Schulen dem neuen Zeitalter nicht mehr entsprächen, wenn mehr und mehr auch das Verlangen auftrat, daß die Entwickelung des Denkvermögens, des gesunden Menschenverstandes höher eingeschätzt werden müsse als bloßes Wissen, wenn auch der Hamburger Johann Basedow schon 1752 die Grundzüge einer neuen Unterrichtsmethode für höhere Schulen in einer lateinischen Abhandlung entwickelte, noch war die Wollfsche Weltanschauung nicht in so weite Kreise gedrungen, daß die ererbte herrschende Schulmethode eiligst verdrängt werden konnte. Aber, als die Zeit erfüllt war, wurde die alte Schule, scheinbar plötzlich durch ein geniales, revolutionäres Buch des Auslandes, durch Jean Jaques Rousseaus Emil in ihren Grundfesten erschüttert. Der Inhalt dieses Buches läßt sich in die Worte zusammenfassen, daß alles, was in seiner Zeit auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts bestehe, wert sei, daß es zugrunde gehe. Damit sprach es, nur im verschärftem Tone, Gedanken aus, die die Aufklärer auch hegten. Auch von dem positiven Inhalte des Buches war ihnen mancherlei aus der Seele gesprochen, daß z. B. das Urteilsvermögen wichtiger sei als Kenntnisse, daß dogmatischer Religionsunterricht für Kinder nicht tauge und daß die Ausbildung des Körpers über der Geistesbildung nicht vernachlässigt werden dürfe. Aber unmittelbar waren Rousseaus Erziehungsregeln auf die Schule nicht zu übertragen. Er bekämpfte die Zivilisation, und die Schule ist ein Kind der Zivilisation, und selbst für die Einzelerziehung ging er von Bedingungen aus, die einem Erzieher in der Wirklichkeit nie geboten werden. Aber auch im Erziehungsziele ging er mit den Aufklärern auseinander. Sein Emil als reiner Sohn der Natur ist im wesentlichen Egoist und soll von der Außenwelt möglichst unabhängig gemacht werden, sich gegen sie wehren lernen, die Zöglinge der Aufklärer, der Philanthropen sollte die Menschen lieben und den Zweck ihres Lebens darin suchen, der Allgemeinheit der Menschen zu dienen. Aber ob Rousseaus Buch auch genug des Schiefen und Übertriebenen enthält, es ist doch eines der anregendsten Bücher die je geschrieben worden sind, und seine sprühende Beredsamkeit und seine blendenden Schlagwörter erschütterten die alte Schule bis in ihre Fundamente. Mit einem Schlage war die Pädagogik zum Range der wichtigsten Wissenschaft erhoben, und Fürsten, Staatsmänner und Schulmänner wetteiferten