Heft 
(1904) 13
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11. (3. ordentliche) Versammlung des XIII. Vereinsjahres.

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so unzählige Varianten der Kinderlieder. Alle aber zeichnen sich durch Ursprüngliche^, Frische und Unschuld des Ausdrucks aus. Für das hohe Alter des Kinderliedes spricht in erster Linie seine weite Ver­breitung und die große Übereinstimmung in den einzelnen Landesstrichen. Alle Kinderreiine aber sind im Dialekt gedichtet, in der Form nachlässig denn es findet sich neben dem Reim oft genug die Assonnanze; es be­gnügt sich mit dem ungefähren Klang. Noch viel unsicherer ist der Inhalt; sein Sinn ist oft dunkel und verschleiert. Das hohe Alter aber macht den Kinderreim zu einer Fundgrube für den Gelehrten. Ein Kreis von Liedern geht zurück auf die Holda, die Frau Holle, der die Linde, der Rosmarin und der Storch heilig waren. Wie der Storch, so wird auch der Maikäfer besungen in dem bekannten:Maikäfer fliege; hier ist Pommerland das Iloldaland und das Abbrennen deutet auf den Weltbrand. An die Stelle der Götter treten die Heiligen, wie der heilige Martin an die Stelle des Wodan, und es heißt:Martin, Martin war ein frommer Mann. Auch der Ausdruck spielt in den Reimen des Volkes eine große Rolle. Besser aber ist der heidnische Ursprung an den Ringelreimen zu erkennen:Ringel, Ringel Rosenkranz. Auch der Vers über die Aufgaben der Finger hat heidnische Unterlagen. Andere Verse sind die Segenssprüche wie:Heile Kätzchen, heile, wo wiederum ein Lieblingstier der Holda erscheint. Derschwarze Mann in dem Kinder­spiel ist auf das Auftreten der Pest zurückzuführen. Die Lieder be­gleiten das Kind in den einzelnen Abschnitten seiner Entwicklung. Das Wiegenlied ist das erste, es ist eine Erfindung der Mutter:Schlaf Kindchen schlaf, der Vater hütet Schaf. Nach dem dummen Viertel­jahr kommen die Koselieder und die Unterhaltungslieder:Backe, backe Kuchen undder Mond der scheint, das Kindlein weint. Noch später folgen die Schaukelreime und die Zuchtreime, die gesprochen werden, wie: Abc, die Katze lief im Schnee und die Tanzreime wieLott ist tot, Lott ist tot, Julchen liegt im Sterben undPutt, Putt, Putt, mein Hühnchen, was tust anf unserm Hof. Zu den Kinderspielen gehören die Lieder zum Auszählen, wie Ringelringelrosenkranz und die Ketten­lieder, wie ,,Fuchs, du hast die Gans gestohlen undSieben Söhne hat Adam. In der neusten Zeit begann sich die Dichtkunst und die Pädagogik der Kinderlieder zu bemächtigen. Dahin gehört z. B. Weißes Kinder­freund mit seiner gezierten Sprache und seiner gesuchten Musik. Es ist der gekünstelte Geschmack des Roccoco. Leicht verständliche und sangbare Verse bzw. Melodien prägen sich dem Kinde schnell ein, wie das HaydnscheAlles schläft in süßer Ruh. Erst Brentano und Grimm brachten die Kinderreime wieder zu Ehren. Rückert mit dem Bäumchen, das andere Blätter hat gewollt, sowie Hoffmann von Fallers­leben, Löwenstein und Fröbel sind hier zu nennen. Der Preis gebührt aber Karl Maria von Webers Wiegenlied:Schlaf, Herzenssöhnchen,