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19. (6. ordentliche) Versammlung des XIX. Vereinsjahres.
Erschwerend für die Beurteilung eines Geisteskranken wirkt auch noch das mit, daß viele meinen, ein solcher müsse an irren Reden und wirrem Gebaliren jedermann erkennbar sein. Dieser falschen Auffassung suchte zu meiner Studienzeit der Direktor der psychiatrischen Klinik, Prof. Siemerling in Tübingen, jezt in Kiel, entgegenzuw rken, indem er in einer für Studierende aller Fakultäten gehaltenen Vorlesung uns einzelne Irren vorführte, die sich nicht bloß in Angabe ihres Nationales sondern auch in der Unterhaltung über bestimmte allgemeine oder spezielle Themata und in ihrem ganzen Auftreten völlig einwandsfrei zeigten wie jeder andere Mensch.
Erst bei Berührung der ihnen eigentümlichen Wahnidee kam ihre Geistesgestörtheit zum Vorschein. Diese auch anderwärts verbreiteten Vorurteile haben sich auch gegen die Berliner Irrenanstalten geltend gemacht, sei es in einzelnen Zeitungsnotizen, welche von dem Klagen unzufriedenen Pflegepersonals berichten, sei es in einer Broschüre eines Laien, der bei Nacht sich in eine Anstalt eingeschlichen hatte und nun allerlei ärztliche Details vor dem Forum der Öffentlichkeit kritisierte. Schon die Art und Weise, wie sich der Betreffende bei Nacht Eingang in die Anstalt verschafft hatte, muß — wie unser Herr Oberbürgermeister treffend bemerkte — bei jedem vorurteilslos Denkenden Befremden erregen. Die einzelnen Angriffe sind denn auch in einem Spezialbericht von dem Vorsitzenden der Deputation für die städtische Irrenpflege, Herrn Geheimrat Dr. F. Straßmann, glänzend widerlegt, da der Bericht im Oktober in allen großen Tageszeitungen veröffentlicht ist und es sich dabei vielfach um ärztliche Details handelt, so dürfte es Sie mehr interessieren, wenn ich Ihnen die Geschichte und das Anstaltsleben der 3 großen Berliner Anstalten in kurzen Zügen entwerfe.
Noch bis in die 70er Jahre wurden die städtischen Irren in 2 Stationen aufgenommen, die Männer in einem abgesonderten Teil des Arbeitshauses und die Frauen in das ehemalige neue Hospital in der Wallstraße oder auf Kosten der Stadt in Privatanstalten. Nach langjährigen Vorberatungen konnte die 1. Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf im Norden von Berlin mit einem Kostenaufwand von 4 Millionen Mark erbaut, im Jahre 1880 eröffnet werden. 12 Jahre darauf erfolgte die Belegung der zweiten- großen Berliner Irrenanstalt in Herzberge bei Lichtenberg und 15 Jahre darauf die Eröffnung der 3. Berliner Irrenanstalt in Buch bei Berlin; wo sich zugleich das große vom Stadtbaurat IToffmann erbaute Hospital, die Alte Leutestadt von Berlin, befindet, die im Oktober 1910 von Sr. Majestät besucht wurde uud eine Heimstätte für brustkranke Männer.
Zur Zeit ist in Bau eine 4. Irrenanstalt, welche in 2—3 Jahren wird belegt werden können. Alle diese Irrenanstalten sowie die Anstalt für Epileptische in Wuhlgavten sind unterstellt einem Kuratorium, das