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Agathe Lasch.
zeigen, daß ein richtiges Urteil über die Entstellung und damit die Klassifizierung des heutigen Berlinischen allein dann möglich ist, wenn man nicht nur die Laute ins Auge faßt, die mit dem Niederdeutschen identisch scheinen, sondern die Beobachtungen auch auf diejenigen ausdehnt, die nicht mehr niederdeutsche, sondern unverkennbar hochdeutsche Form haben. Und es wird sich, glaube ich, eine durchaus andere Anschauung als die oben gekennzeichnete über Entstehung und Charakter des Berlinischen ergeben müssen*).
Ich beginne mit den oben angeführten Beispielen „böm“ und „sten“, die ö und e statt des schriftsprachlichen au und ei (ai) zeigen. Dabei ist dem Berlinischen au und ’ei (ai) nicht etwa fremd. Denn es heißt z. B. „maus“ und „mein“ hier. Wenn man nun schriftsprachliches au und ei in Berlin teils durch o, e, teils durch au, ei wiedergibt, so ist doch diese Verteilung nicht etwa willkürlich, sondern sie spiegelt genau den verschiedenen Ursprung der Laute: ö ist aus ursprünglichem au hervorgegangen, au aus altem u. Einem plattdeutschen ök entspricht im Gotischen (der ältesten Stufe des Germanischen, die uns durch reiche Belege bekannt ist): auk. „maus“ aber heißt mittelhochdeutsch wie im modernen Platt mus mit der alten Vokalieation u. Ebenso geht e auf ai zurück (gotisch „staius“ der Stein = nd. sten), ei aber ist aus I entstanden (mittelhochdeutsch wie platt min = schriftsprachliches modernes „mein“). Unsere Schriftsprache hat zwei Laute verschiedenen Ursprungs in den einen Laut au, resp. ei (ai) zusammenfallen lassen, während alle Dialekte hier scheiden. Man denke z. B. an bairisch-österreichisches „bäm“ aber „haus, koa“ aber „mei“ (Baum, Haus, kein, mein) oder an plattdeutsches böm und mus, ken und min. Das berlinische böm, ken, sten, kann natürlich nicht aus der neuhochdeutschen Schriftsprache stammen mit ihrem „bäum, stein, kein“, aber es kann auch kein nd. Überrest sein, wie man gern angenommen hat, da es in diesem Falle unerklärlich wäre, warum wohl plattdeutsches böm, sten, nicht aber müs, min erhalten ist. Die Lautverteilung jedoch, die Berlin aufweist (ö, e für alles germanisches au, ai, aber au, ei für altes ü, I) zeigt unter allen Dialekten das Obersächsische, d. h. die in einem großen Teil des heutigen Königreichs Sachsen und dem anstoßenden Teil der Provinz Sachsen gesprochene Form des Deutschen. Und zu dem Vokalismus
*) Andeutungsweise habe ich schon in meinem Buch „Geschichte der Schriftsprache in Berlin“ S. 172 Anm. 1 und S. 17:1 Anm. 1 darauf hingewiesen. Diese Andeutungen will ich hier ausführen und erweitern für einen Leserkreis, der durch seine märkischen Interessen, seine ständige Berührung mit dem Berlinischen besonders dafür in Betracht zu kommen scheint, mit dem Wunsche, daß diese Zeilen dazu beitragen könnten, das Verständnis für diese ebenso oft unterschätzte wie überschätzte Sprachform in weitere Kreise zu bringen. — Die Kürzung nd. bedeutet niederdeutsch, hd. = hochdeutsch.