Die Berliner Volkssprache.
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Fassen wir noch einmal kurz zusammen, so zeigt sich, daß Berlin das Hochdeutsche aus obersächsischem Gebiete empfing. Darauf weisen noch eine Anzahl lautlicher Erscheinungen, wie das Nebeneinander von o und au, e und ei, p und f (lofen, appel) die als niederdeutsche Überreste nicht erklärt werden können, da alsdann ihre lautgesetzlich genaue Verteilung ganz unerklärlich wäre, die sich dagegen bei Ableitung aus dem Obersächsischen mit Notwendigkeit ergibt. Eine völlige Gleichheit dieses hochdeutschen Dialektes mit dem Berlinischen war dabei ausgeschlossen; denn im Munde einer Bevölkerung, deren Muttersprache nd. war, mußte die neuerlernte Sprache naturgemäß anders klingen und die Weiterentwickeluug einen andern Weg nehmen als auf hochdeutschem Boden. Die in Obersachsen und in Berlin wohl nicht immer in gleicher Richtung angebahnten und auch verschieden wirkenden Angleichungsbestrebungen an eine von groben Dialekterscheinungen freiere Gemeinsprache erweiterte diese Kluft. Eigenheiten in Wortschatz und Syntax, wo noch manch altes Gut bewahrt blieb*), Einflüsse der aus der Fremde zugezogenen Bevölkerungsschichten auf den Wortschatz gaben dem Berlinischen sein besonderes Gepräge.
„Ein natürlich erwachsener Dialekt“, wie Hans Meyer noch in der 7. Auflage des „Richtigen Berliners“ S. III**) das Berlinische nennt, ist es, wie die obige Darstellung zeigt, nicht, und es ist nicht mit hochdeutschen oder niederdeutschen Mundarten zu vergleichen. Diese entwickeln sich, alte Sprachzustände fortsetzend, geschlossen in sich. Von solcher Geschlossenheit ist beim Berlinischen keine Rede und kann keine Rede sein seiner ganzen Entwickelung nach: Ein hochdeutscher Dialekt ist von einer nd. Bevölkerung aufgenommen worden und mannigfachen Einflüssen, zumal denen einer über den Dialekten stehenden Gemeinsprache von Anfang an offen gewesen und die so entstandene Sprach- form, die nicht wie die Mundarten von einer im wesentlichen einheitlichen Bevölkerungsgruppe, sondern von einer durch starken Zuzug immer wdeder veränderten Einwohnerschaft gesprochen wurde, ist natürlich
vor. — Für weitere Entlehnungen aus den fremden Idiomen s. u. a. Der Richtige Berliner S. X. Nur wird man die Ansicht nicht teilen, daß alle französischen Endungen und Scherzformen auf die französische Kolonie und Einquartierung zurückgehen. Zweifellos sind sie in einigen Fällen zu beurteilen wie die lateinischen und griechischen Endungen in „Schwulität, burschikos“ usw., d. h. aus scherzhaftem Gebrauch in der Sprache der Gebildeten übergegangen in die des Volkes.
*) Es sei daran erinnert, daß das Nd., das heute in einem Umkreis von ca. 30 km von Berlin stark im Zurückweichen ist, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch bis dicht vor die Tore Berlins reichte.
**) Wenn Meyer das Berlinische als Sprache der 3 Millionen Einwohner Groß- Berlins bezeichnet, so ist das doch wohl etwas sehr hoch gegriffen. Der Sammler des Berliner Idiotikons sollte ja eigentlich am besten wissen, welch geringer Bruchteil der Berliner Bevölkerung „berlinisch“ spricht.