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Symbolische Rechtsaltert Omer.
fast gleichkam. Wenngleich das Urteil gesprochen war, konnte der Nachrichter seines Amtes nicht walten, sobald der Richter den Misse- thäter mit dem Stabe berührte. Ich glaube irgendwo gelesen zu haben, dass dies einer Begnadigung gleichkam. Zerbrach der Richter seinen Stab, so begab er sich seiner Macht über den Missethiiter und sagte damit bildlich: „ich habe gerichtet, nun Nachrichter walte du deines Amtes.“
Somit wäre eine Erklärung des zerbrochenen Weidenstabes gegeben; was aber hat der geharnischte Ritter mit dem Richter zu thun. Es ist leicht und billig auf den steinernen Roland am Rathaus zu Bremen hinzuweisen; kulturgeschichtliche Erscheinungen werden durch Hinweise nicht ausreichend erklärt; der ursächliche Zusammenhang muss immer klar liegen.
In jeder alten deutschen Gemeinde*) bestand ein Ilagengericht, das über Vergehen und Übertretungen rechtzusprechen hatte. Eine Anzahl Gemeinden bildete den Gau, an dessen Spitze der Gaugraf stand. Dieser, im Kriege der Führer der Manschaft, war im Frieden der oberste Richter, der Vorsitzende des Gaugerichts, das in peinlichen Sachen rechtsprach. Dieses Gericht hatte im Hauptorte des Gaus seinen Sitz und tagte unter freiem Himmel. Die Mal- oder Gerichtsstätte war kenntlich gemacht durch eine hoch aufgerichtete Steinsäule, von der der Namen Hermann oder Irmensäule uns überliefert ist. Der Gaugraf war hiernach nicht nur ein alter, d. i. ein durch Erfahrung gereifter Mann, sondern auch als Führer im Kriege zugleich Krieger. Wenn nun eine spätere Zeit in Orten, welchen die sogen, hohe Gerichtsbarkeit verliehen worden war, etwa im 12. und 13. Jahrhundert als Symbol der Macht des Rates über Leben und Tod zu urteilen, an den Rathäusern Säulen errichten liess, welche einen Ritter mit entblösstem Schwert darstellten, so ist hierin in erster Linie eine Wiedergabe der Irmensäule zu sehen, sodann aber die Erinnerung an die längst eingegangenen Gaugrafen fest- gehalten. Die Richtigkeit dieser Erklärung bestätigt eine andere Erscheinung, welche zugleich für die Zähigkeit eingewurzelter Rechtsanschauungen spricht. Neben oder vor den Rathäusern befand sich die Gerichtslaube, in der in den ältesten und älteren Zeiten nicht nur zu Gericht gesessen, sondern auch und zwar bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts Beeidigungen von Ratspersonen, Viertels- und Gildemeistern u.s.w. vorgenommen wurden. War ein Schutz gegen plötzliches Unwetter durch die Gerichtslaube geschaffen, so war doch der Begriff festgehalten worden, dass solche Handlungen im Freien und nicht im geschlossen Raum abzuhalten seien,
*) „Die altdeutsche Gemeinde und ihren Namen“ von Dr. Aug. Deppe, Correspondenz- blatt der deutschen Gesellsch. für Anthropologie etc. 1892.