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Veneta.
Lenore im
Soll unter Gottes Sonne Wohl nichts von Dauer sein,
Und hätt’ es auch gestanden Fest, wie ein Eichenhain,
Und hätt’ es auch geklungen Am Herd zur Abendstund’
Durch viele hundert Jahre Aus zweier Völker Mund.
Die Lieder selbst verhallen, Gesummt nach Väterbrauch.
Man sammelt ihre Brocken Zerstreut im Windeshauch.
Von traurigen Geschichten Schwirr'n Strophen durch die Luft, Die athmen aus der Sage Uralten Blumenduft.
Was hatt’ aufs Neu gestaltet Des Dichters Genius,
Die schaurig süssen Reime,
Die Jeder murmeln muss,
Von Wilhelm, von Lenoren,
Die fuhr ums Morgenroth Empor aus Schlaf und Träumen Zu reiten mit dem Tod.
Davon singt noch im Spreewald Die Wendendirne schlank,
Wenn sie des Liebsten harret Am Ufer auf der Bank.
Aus halbvergess’nen Klängen Bricht heiss die Liebesglut.
Die Alles wagt und duldet Für’s höchste Erdengut.
Spreewald.
Wer hat sic denn des Liedleins Bruchstück so fein gelehrt?
Sic hat ja, unbelesen,
Von Bürger nie gehört.
Grossmütterlein, die Alte,
That es erinnrungsreich,
Sang’s ihres Kindes Kinde Vor, wonniglich und weich;
Wie’s ihr vor langen Jahren Hat liebreich anvertraut,
Von Lippen, die längst modern, Der Muttersprache Laut:
Er kam auf seinem Schimmel, Klopft’ an mein Fensterlein.
Bist du denn nicht im Himmel, Liebwerter Bräut’gam mein?
Hat zweimal mich gefraget,
Bis ich ihm Antwort gab,
Den flott im Sattel traget Mit mir des Rössleins Trab.
Das Pferd bewegt sich schnelle Durch Nacht hin und durch Wind; Der Mond scheint oben helle — Wciss selbst nicht, wo wir sind.
Als ich nun sass daneben, Forscht’ Reitersmann zuletzt: Herzliebchen fein, thust beben Und zittern du nicht jetzt?
Hab’ Küsse ihm gegeben, Trotzdem er blass zu schau’n. Wie kann wohl, süsses Leben,
In deinem Arm mir grau’n?
Bozawoss.*)
( 1880 .)
Nie der Freude, noch dem Glück, Elend nur und nur dem Jammer, Sei’s im Hof, sei’s in der Kammer, Wend’ ich zu prophet’schen Blick.
Im voraus des Unglücks Schritt Thu’ ich kund den Stauberzeugten Mit der Wimper Thränenfeuchtcn, Mit dem roten Augenlid.
*) Nach wendischer Orthographie: BoZawoscz, auch Buzawoscz, seltener Bozalosc; ohne Zweifel eine der rührendsten und zartesten Gefühlsäusserungen des wendischen Volksgeistes. %