3. (2. ordentliche) Versammlung des IX. Vereinsjahres.
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Jagd oder der Erlegung des Tieres. Die mittelalterlichen Beschauer, die mit dem Inhalt der Physiologus- und Bestiarien-Überlieferung vertraut waren, werden diese Darstellungen ohne Zweifel als Bilder für die Menschwerdung Gottes aufgefasst haben; aber der Vorgang der Inkarnation oder der Ratschluss der Erlösung der Menschheit selbst wurde zunächst nicht dargestellt.
b) Eine wirkliche Erweiterung der ursprünglichen Einhornlegende dagegen liegt nach Cohn II. 20 in einer Reihe von Kunst- darstellungeu vor, die (lern ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert angehören
, und überwiegend Deutschland anzugehören scheinen. Das Bild der Einhornjagd, das bis dahin nur ein Vorbild der Menschwerdung war wird nunmehr zum Bilde der Verkündigung und der Inkarnation selbst. Die Jungfrau erhält als Jungfrau Maria hierbei nicht selten einen Heiligenschein.
c) Endlich geht neben der alten mystischen Deutung der Erzählung vom Fange des Einhorns durch eine Jungfrau auf die Menschwerdung Christi im Schosse der Maria schon früh eine rein moralisch alle- gorisierende, auf menschliche Verhältnisse bezugnehmende oder das Einhorn, wie es im Mittelalter mit Tierbildern so häufig geschah, als Vorbild gewisser Tugenden oder umgekehrt gewisser Laster benutzende Darstellung einher. Dabei schwankt das Charakterbild unsers braven Tiers so, dass es bald als Muster der Keuschheit, aber auch als Vertreter der Unenthaltsamkeit aufgestellt wird. Letzterer Deutung huldigt der grosse Lionardo da Vinci, wenn er sagt: per la sua intemperanza e non sapersi vincere per lo diletto che ä delle donzelle dimentica la sua ferocitä e salvatichezza, ponendo da canto ogni sospetto va alla sedente donzella.
In welche der drei Gruppen gehört nun die brandenburger Darstellung? Offenbar in die erste Gruppe, die so zu sagen naturalistische Gruppe a, wie schon Wernicke andeutet und Colin II. 17 ausdrücklich angiebt; womit ich auch durchaus übereinstimme.
Leider ist das interessaute Stück in Folge jahrhundertelanger Verwahrlosung in der traurigsten Verfassung, und war deshalb das Märkische Provinzial-Museum nicht im Stande, den bis jetzt dafür geforderten ansehnlichen Preis aufbringen zu können, da alle Gönner des Museums, welche zum Erwerb beisteuern wollten, sich über den zerfetzten Zustand des Antependiums entsetzt und deshalb die Preisforderung für zu hoch erachtet haben. Unsere Mitglieder wissen ja ausserdem aus dem Besuch der Kunstwerkstätte unsers Mitgliedes Ziesch, Bethanien-Ufer Nr. 8 am 9. September 1899, wie schwierig die Reparatur von dergleichen Gobelin-Webereien ist und welche hohen Summen sie kostet, Beträge die den Erwerbspreis des defekten Stücks oft um ein Erhebliches übersteigen. Ohne eine solche gründliche Reinigung, Ausbesserung und