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14. (4. fiffentl.) Veraammlung des IV. Vereinsjahres.
12. Vortrag von Frl. Elisabeth Lemke über Vo lkstümliche Soldatenlieder.
Geehrte Anwesende! Die Thatsache, dass nunmehr ein Vierteljahr- hundert seit dem Kriege 1870—71 vergangen ist, hat zu unübersehbar vielen Mitteilungen und Betrachtungen Veranlassung gegeben. Leute, die vordem niemals für eine Zeitung geschrieben hatten, überliessen ihre aus dem Feldzuge stammenden Aufzeichnungen der Presse; und manch’ Einer, der damals mit dabei gewesen ist, meldet sich zum Worte. Bitte, folgern Sie nun alter nicht, — weil ich hier über Soldatenlieder sprechen werde — dass auch ich mit dabei gewesen wäre!
Der mir zufällig vor Augen gekommene Abdruck eines Briefes von Gustav Freytag über jene Arten von Liedern, denen der ans den unteren Volksschichten kommende Soldat den Vorzug giebt, erinnerte mich zunächst an meine eigene kleine Sammlung solcher Lieder, sodann verglich ich dieselben mit gedrucktem und ungedrucktem Material aus dem gesummten deutschen Vaterlande. Wie es in der Natur der Sache liegt, ist die Übereinstimmung der Soldatenlieder in allen Gauen des Reiches eine sehr grosse. Daher muss ich annehmen, Urnen nicht viel Neues vortragen zu können. Indessen möchte ein kleiner Kundblick auf genanntem Gebiete Sie ein wenig unterhalten.
Ich werde — was Beispiele anbelangt — im Wesentlichen Varianten aus der Mark Brandenburg und der Provinz Ostpreussen berücksichtigen. Dies ist (abgesehen von anderen Gründen, die meine Auswahl bestimmen) naheliegend durch die Bedeutung, welche gerade diese beiden Provinzen für uns haben.
Der allergrösste Teil der Soldatenlieder geht zugleich unter dem Namen „Volkslieder“, und das in mehr, als einem Sinne, mit Recht. Dagegen birgt die Bezeichnung „Volkslied“ im Allgemeinen einen kleinen Widerspruch in sich, den Jeder kennt, der lange Zeit hindurch z. B. mit der ländlichen Arbeiterbevölkerung verkehrt und sie treulich beobachtet hat. Wol singt man auch hier Manches, was in allen Kreisen des Vaterlandes und darüber hinaus so treffend „Volkslied“ genannt wird; aber wir möchten mit diesem Worte nicht ohne Weiteres jene Gesänge bezeichnen, die daselbst mit Vorliebe gepflegt werden; und doch sind dies wiederum die wahren „Lieder des Volkes“.
Das Volk (insofern wir die unteren Schichten der Bevölkerung darunter verstehen) hat seine eigene Welt und lehnt in den meisten Fällen das Eindringen des ihm Fernliegenden ab, womit Dieser oder Jener es beglücken möchte; es hat seine besondere Poesie, worin es lebt und denkt, die es auch nicht selten ausspricht, — aber meist unbewusst. Die Mehrzahl seiner Gesänge bedeutet ihm nur das, was man ein „angenehmes Geräusch“ nennt. Es fällt ihm nicht ein, und es hat auch nicht die Fähigkeit (und auch nicht die Zeit) dazu, über die Worte und ihren