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K. AJtrichter, Der Rosenthaler Gold- und Silberfund.
zu betrachten waren. Denn es ist notwendig, obwohl meist dagegen gefehlt wird, wenn man derartige Sachen erklären will, soweit figürliche Darstellungen in Frage kommen, dass man sich selber den Grad kultureller Bildung unterstellt, den annähernd die Leute gehabt hatten, die solche Gegenstände herstellten. Man muss alles vergessen, was Kunst und Handfertigkeit seit jener Zeit zu schäften gelernt und wie der moderne Mensch sich durch Jahrhunderte hindurch währende Fort- schreitung zu denken und zu sehen gewöhnt hat.
Ob nun die beiden vorliegenden Gegenstände keltischer, nordischer oder germanischer Herkunft sind, sie gehören auf jeden Fall dem Jugendalter einer Bevölkerung an, die nicht mehr auf den unteren Stufen der Entwicklung stand. Es handelt sich eben nicht um einen Schmuck- und einen Gebrauchsgegenstand roherer Herstellung, sondern um Stücke, die wiederum geziert waren, von denen die Ornamentierung des Brakteaten augenscheinlich eine sinnbildliche ist. Mithin hat man darin ein Spiegelbild von Vorstellungen und ihrer Darstellung zu erblicken. Ich versetzte mich deshalb in ein sehr frühes Jugendalter zurück, in eine Zeit etwa des Anfanges der Schulzeit und stellte mir vor, dass ein nicht unbegabtes Kind dieses Alters — d. h. nicht etwa ein Berliner Junge, der täglich schon sein- früh an Bildern und Bildwerken sein Vorstellungs- und Darstellungsvermögen bilden und erweitern kann, sondern etwa ein Dorfkind oder das Kind einer kleinen Stadt — versuchen möchte, das ihm am Nächsten Liegende, die menschliche Gestalt bildlich darzustellen. In Figur 1 bis 4 habe ich Formen gebracht, die die Hand solcher Kinder hervorzubringen pflegt und denen man nicht so selten an Zäunen und Planken, Türen und Wänden begegnet. Es ist wohl, ohne dass ich auf nähere Erklärungen eingehe, eine stufenweise Entwickelung zum Vollkommneren erkennbar, wenn schon das Mangelhafte noch scharf hervortritt. In Figur 4 z. B. soll der Kopf im Profil stehen; deshalb ist bei a die Nase angesetzt, aber beide Augen sind angedeutet, weil eben der Mensch deren zwei hat und der kleine Künstler noch nicht erkannt hat, dass die Phantasie im Profil sich das Aussehen der anderen Gesichtshälfte ergänzt.
Wenn hier Erzeugnisse des Kunstsinnes im Kinde zur Darstellung gelangen, bringt Figur 13 Menschengestalten in schon etwas vollendeter Form und zwar wie sie auf den sogenannten Alsengemmen durchschnittlich ausgeführt sind. Es ist ein Kunsterzeugnis einer noch im Kindesalter hinsichtlich seiner Darstellungsfähigkeit stehenden Bevölkerung. Die Darstellung ist derjenigen in Figur 4 überaus ähnlich, nur wird die Figur natürlicher, Gliederung macht sich bemerkbar, nur die Verzeichnungen sind unverkennbar. Ich will damit keineswegs auf die Köpfe hindeuten, deren absichtlicher Darstellung ich eine besondere Bedeutung beimesse, sondern lediglich auf die Missverhältnisse in den