Die historischen Volkslieder der Mark Brandenburg aus den Zeiten des Mittelalters.
Das episcli-historische Volkslied, welches die Helden der Nation verherrlicht und die Kunde von ihren Tliaten der Nachwelt überliefert, ist bei uns Deutschen ebenso alt wie unsere Geschichte, d. h. es ist in dem Zeitalter entstanden, wo unsere Vorfahren, als sie zu den Römern in einen bewussten Gegensatz traten, sich zum ersten Male als ein zusammengehöriges Ganze fühlten; die Lieder, welche nach Tacitus’ Bericht*) noch zu seiner Zeit, also beinahe hundert Jahre nach Arminius’ Tode auf denselben gesungen wurden, sind aller Wahrscheinlichkeit nach auch die ersten historischen Volkslieder, welche im deutschen Volke entstanden und gesungen sind.**) Ununterbrochen ist dann dieser Gesang gepflegt worden in der Epoche der Völkerwanderung, hat neue Nahrung und Kraft gewonnen aus den Heldenthaten Karls des Grossen und seiner Paladine und sich dann von neuem emporgerankt an den kraftvollen Gestalten der sächsischen und liohenstaufischen Kaiser. Und wenn uns auch von diesen Liedern, die selbstverständlich in der Sprache des Volkes, d. h. deutsch gedichtet waren, aus der Zeit der älteren deutschen Kaisermacht (bis zum Interregnum) wenig oder garnichts erhalten ist, so bezeugen doch Historiker und andere Schriftsteller für die verschiedenen Jahrhunderte, dass in ihren Tagen Gedichte, welche die Helden des Volkes und ihre Timten feierten, beim Publikum im Umlauf gewesen seien. Besonders hier in dem Norden unseres Vaterlandes, wo der historische Sinn und damit auch die Freude an den Grossthaten früherer Generationen stärker entwickelt ist als in Mittel- und Süddeutschland, hat es frühzeitig einen reichen Schatz von solchen historischen Liedern gegeben, und wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir sehen, dass, während sonst im Mittelalter neue litterarische Bewegungen ihren Ausgangspunkt im Westen und Süden Deutschlands nahmen, das geschichtliche Volksepos und Volkslied, als es sich zu einer
*) Annales II, 88. Dieselben sind zwischen den Jahren 115 u. 117 n. Ch. veröffentlicht worden, Arminius’ Tod fällt vermutlich in das Jahr 21 n. Oh.
**) Vergl. über diesen Gegenstand jetzt K. Koegel, Gesell, der deutschen Litteratur bis zum Ausgange des Mittelalters, Bd. I (1804) S. 111—131; II (1897) S. 220—243.
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