19. (8. ordentliche) Versammlung des X. Vereinsjahres.
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ritter haben anscheinend drüben eine Zeit lang gute Geschäfte gemacht. Jetzt zieht die Sache dort nicht mehr, verschiedene neuere Humbugs haben ihn verdrängt. Aber Berlin, die Stadt der Intelligenz, erschien den Heiligen von drüben auch als ein gutes Pflaster, und siehe da — es ging. Unsere vornehmen Kreise sind ja für allerlei Spiritismus, Mystizismus u. s. w. sehr empfänglich, wenn die Sache nur recht konfuse aussieht. Leider ist es nicht bloss eine harmlose Dummheit, die da verübt wird, sondern ein sehr gefährliches Treiben, weil bei dem Gesundbeten des Kranken natürlich kein Arzt zugezogen wird. Angehörige reicher Erbonkel und dergleichen können, wenn diese erkranken, nicht Zweckentsprechenderes thun, als den Arzt vor die Thür zu setzen und einen Vertreter der „christlichen Wissenschaft“ von Miss Eddy herbeizuholen. Die wenigsten Fälle kommen natürlich ans Licht. Dr. E. Sobotta, der jüngst in der „Deutschen medizinischen Wochenschrift“ den „Eddysmus“ ausführlich beleuchtet hat, giebt in der neuesten Nummer desselben Blattes eine kleine Blütenlese von Kurberichten aus Amerika und England, von denen einer erwähnt sei. Ein dreizehnjähriges Mädchen hatte Typhus. Als die Äerzte nach Pflicht und Gewissen nicht unbedingt Zusagen konnten, dass das Mädchen am Leben erhalten bleiben würde, beriefen die Eltern die „Christian healers“. Diese entfernten natürlich zunächst alle Medikamente und schrieben keine Diät vor. Das Kind konnte essen, was es wollte. Als die Krankenpflegerin auf die zunehmende Schwäche des Kindes aufmerksam machte, wurde auch diese entfernt. Natürlich starb das Kind, das schliesslich keine Nahrung mehr zu sich nahm, nach kurzer Zeit."
Uns interessiert bei dieser merkwürdigen Psychose selbstredend nur das Volkskundliche und da muss behauptet werden, dass das Gesundbeten (auch wie wir sehen werden: das Krankbeten) ein uralter, fast über den ganzen Erdball bei Christen und Nichtchristen, bei Kultur- wie bei Natur-Völkern weitverbreiteter Aberglaube ist. Was ist denn das Böten d. h. das Besprechen der Krankheiten anders? Es werden dabei altheidnische, aber mit christlicher Mystik ausstaffierte Formeln hergebetet. „Böten“ ist in diesem Sinne, psychologisch gesprochen, im wesentlichen dasselbe wie „Beten“.
Zufällig finde ich eine schöne, genau passende Belagstelle bei Helene Raff „Zwei Modellgeschichten“ (Deutsche Rundschau, Bd. CVIII 1901) aus dein Altbayrischen. Die Verfasserin in München leidet an Kopfschmerzen, was dem Modell Veferl sehr nahe geht. S. 290 heisst es:
„Vefi bethätigte ihr Mitleid anfänglich durch Auräthen der verschiedensten Sympathiemittel und brachte zuletzt einen Zettel zum Vorschein, auf welchem sehr unorthographisch ein längeres Gebet gegen Kopfschmerzen verzeichnet war. Meine Weigerung, mich desselben zu bedienen, machte sie förmlich bestürzt. „Es hilft doch aber, Fräul’n, ganz g’wiss hilft’s. Dös weiss a Jedes bei uns z’ Haus, dass man Krankheiten wegbeten kann — und herbeten auch. Wir hab’n, wie unser Heimathl vergantet war, bei einer Frau gewohnt, die hat alle Kranken gesund beten könna, und einmal hat s’ Jemand totgebetet.“