Heft 
(1902) 11
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8. (3. ordentliche) Versammlung des XI. Vereinsjahres.

BezeichnungAristokratie ist die Vorstellung verknüpft, dass es eine Ver­erbung von Vorzügen der Väter auf die Kinder gäbe. Diese Vorzüge können nur solche des Charakters oder der Begabung sein: materielle Vorteile können zur Ausbildung des Einzelnen sowie, wenn sie sich vererben, der Geschlechter beitragen, sie sind aber lediglich zufällige Hinzukommnisse, nicht wesentliche Bestandteile. Helden werden von Helden und Braven ge­boren, sagt Horaz. Dies schliesst freilich auch aus, dass man den Adel nur mit den Augen des Hofmarschalls ansieht. Echter Adel ist nur dort vor­handen, wo es einen Stamm überlieferter Ehr- und Sittenbegriffe, wo es eine Familientradition und ein einheitliches, bewusstes Wollen innerhalb der Sippe giebt. Eineneue Aristokratie kann daher nur dann entstehen, wenn be­stimmte Familiengruppen, die nicht zuralten Aristokratie gehören, in dem was das Edelste im Adel ist, ihm gleichkommen: im Adel der Gesinnung und des Handelns, im Stolze auf die Familie, im Festhalten an der Er­innerung an die Vorfahren und in dem Bestreben, den ererbten Namen rein und fleckenlos zu erhalten und zu seinem Glanze, seiner Ehre und seiner Macht als eines von vielen Gliedern desselben Blutes und derselben Sippe beizutragen, soviel ein jeder vermag. Jene alte Aristokratie wird einen Mit­bewerber keinen Nebenbuhler nur dann finden, wenn echter Bürger­stolz und echter Bürgersinn im Streben nach den höchsten Gütern ihr zur Seite tritt. In Ehren erworbener Reichtum, durch Generationen vermehrtes Vermögen und Wissen wird diesenbürgerlichen Geschlechtern Macht geben, wenn sie ihre Gediegenheit und ihr Selbstbewusstsein bewahren. Nicht nur ein Krupp, ein Borsig, sondern auch Minister, Beamte und Militärs bedurften nicht desAdels, um' sich die von ihnen eingenommene sociale Stellung zu schaffen.

Schon in alter Zeit war neben die heutigeAristokratie eine andere getreten: Bei der Weltentwickelung Deutschlands ist so oft jetzt auf die alte Hansa hingewiesen worden! Jene alten Stadtgeschlechter, derStadt­adel, dasPatriziat waren zu Zeiten der Hansa dem Landadel gewachsen, oft überlegen, auch sie gehörten zu denEdelsten des Volkes. Ihre Nach­kommen sind nicht vom Erdboden verschwunden. Sollte jetzt bei Deutsch­lands Blüte jener alte Hansegeist nicht wieder zu neuem Leben erstehen? Werden sich die Bürgergeschlechter nicht ihrer alten Traditionen, nicht ihrer Glanzzeit erinnern und neben den Errungenschaften der Neuzeit das hocli- halten, was sie von ihren Vätern ererbten, den rechten, stolzen und schlichten Bürgersinn? Dieser Erinnerung an die Vorfahren, mit welcher sich der die Blutsverwandten und Sippgenossen umfassende Familiensinn verbindet, soll dieses Buch geweiht sein. Sollten die von ihm vertretenen Anschauungen, der in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr erstarkende Familiensinn der bürgerlichen Kreise Vorboten einerneuen, einer anderenAristokratie sein? Auf eine solche würde, glauben wir, der das Alter und die Tradition ehrende Adel nicht missgünstig sehen.

Berlin N.W., 10. März 1902.

Klopstockstr. 61.

Dr. jur. Bernhard Koern er.