Heft 
(1902) 11
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Kleine Mitteilungen.

der Folkloristik und der lokalhistorischen Anekdote stellen. Was an heimatlich-Vergangenes anklingt, und müsste man, um ihm zu lausehen, noch so tief abwärts steigen, das wird, zumal unter Berlinern, allezeit ein ge­neigtes Ohr linden.

Die alte Meyern also an der Ecke beim Neuen Museum. Von ihr ist neuerdings in diesen Blättern die Bede gewesen, ohne dass alle Züge ihres überhaupt schwach umrissenen Lebensbildes erschöpft worden wären. Sie hatte noch in dem nur wenig älteren Berlin zahlreiche Kolleginnen, die auf öfientlichen Plätzen wie an Kreuzwegen ruhig und respektiert des gleichen Amtes walteten. Woran mag es gelegen haben, dass diese Eine in so hohem Grade zur Zielscheibe allgemeiner Aufmerksamkeit geworden war? Es musste in ihrem Wesen etwas Besonderes, dazu Herausforderndes gelegen haben. Derbste Kealität einerseits, Mysterien rechts, Mysterien links in anderen Fällen, das war der Dunstkreis, der sie umtlutete und ihr, zumal seitens des männlichen Nachwuchses nur allzu ott alle Kränkungen einer unzarten Behandlung zuzog. Mir selbst ist solch Anulken immer widerlich erschienen.

Warum hatte sie aber auch eine notorische Vergangenheit neben der Gegenwart einer im ganzen doch problematischen Natur? Warum hatte sie sich auch für ihr Geschäft einen Stand im Freien gewählt, nicht wo die Spötter sitzen, wohl aber an dem der spöttische Janhagel mutwilliger Schüler und noch schlimmerer Strassenjungcn tagtäglich seinen Weg nahm. Die ihr nachbar­lichen Werderschen schützte allein schon ihre Anzahl. Mutter Meyern trontc dagegen einsam und preisgogeben; nur einen ihresgleichen, kaum weniger anfechtbar als sie selbst, sah sie neben sich. Von dem soll später berichtet werden.

Sie hatte eine böse Mitgift, niemals vergessen, auf ihren Lebensweg miterhalten. Ihre Stirn trug ein Stigma, das, wenn nicht an Beatrice Cenci, so doch wenigstens an dieUrsinus mahnte. Unbeschadet ihrer bürgerlichen Unbe­scholtenheit, haftete an ihr das Andenken an eine Blutschuld, fiel auf sie ein Schatten wie aus einem Kapitel des Neuen Pitaval. Die Mutter war als Gattenmörderin verurteilt worden und war der schauerlichen Todesstrafe des Bades anheimgefallen, als letzte Schicksalsgenossin so Vieler, die dieser Horror mittelalterlicher Kriminalistik martyrisierte. So geschehen auf dem Galgen­platz zu Berlin, noch in den vierziger Jahren!

Die Tochter sollte als Mitschuldige bei jenem Mord das Licht gehalten haben und durfte sich, weil noch nicht ganz sechzehnjährig, glücklich schätzen, schärferer Strafe entgangen zu sein.

Allein die Volksoriginalistik hatte für das .junge Mädchen aus der Un- erschöpflichkeit populärer Phantasie eine andere Pön ersonnen, an der quia absurdum unerbittlich festgehalten wurde: nämlich ihr zudiktierte lebens­längliche Ehelosigkeit. Wenn ihr Ilerz später gesprochen hat, so war es ihr doch verwehrt gewesen, den Erwählten durch kirchlichen Segen an sich ge­fesselt zu sehen. Ein Steinmetz hat für den Glücklichen gegolten.

Für 500 Thaler sollte die Meyern ihren von blühendem Fett strotzenden, wirklich ungewöhnlich korpulenten Leib posthum an die Anatomie verkauft haben; nicht jedoch, wie fälschlich angenommen worden ist, um ihn aus-