Heft 
(1903) 12
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E. Lemke, Hohenzollem- und andere Fürsten in Mythenbildung.

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Bei Gelegenheit der letzten Kaisertage am Rhein machten die Zeitungen auf die dort herrschende Annahme aufmerksam, dass die Stadt Wesel von den preussischen Königen vernachlässigt werde. Die Kölnische Zeitung erwähnte die niederrheinische Volkssage, dass seit 1730 kein Prenssenkönig mehr die Stadt Wesel betreten habe. Dies wird vom Volke behauptet, obgleich schon Friedrich d. Gr. mehreremale in Wesel geweilt hat und auch die folgenden Könige die Stadt besucht haben. Unserm Kaiserpaar wurden diesmal grossartige Huldigungen dort zu teil; aber wer das Volk kennt, wird sich sagen, dass nach einiger Zeit die Tatsachen vergessen sein können und die (in diesem Falle nicht entschuldbare) Fabel ruhig weiter leben wird.

Es leben auch Fürsten weiter, die längst dem Schattenreich an­gehören. Ein merkwürdiges Beispiel dafür kann ich aus dem Kreise Neidenburg (Ostpr.) erzählen. Bei einer Wahlversammlung (die allemal z. T. ergötzliche, z. T. bedauernswerte Beweise liefert, wie wenig der sog.kleine Manu von Politik u. s. w. eine Ahnung hat) erklärte ein Arbeiter, dass er den Prinzen Friedrich Carl wähle. Als ihm jemand zurief: der wäre schon seit vielen Jahren tot, sagte der Mann:Das ist ganz gleich! Ich hab unter ihm bei Ivüniggriitz gefochten; und da wähl ich ihn auch.

Prinz Friedrich Carl (ich darf wohl auf meinen ersten Vortrag verweisen) ist ungemein beliebt beim ostpreussischen Volke, und sein Andenken erhält sich in zahllosen Überlieferungen.

Mit grossem Interesse habe ich während meines Aufenthaltes in österreichischen Ländern wahrgenommen, dass dort dem unglücklichen Kronprinzen Rudolf ein ähnliches Gedenken bewahrt wird. Er ist nicht gestorben (sagte man); er ist nur für Österreich tot. Der arme, liebe Rudolf! Manchmal wird er erkannt, wenn er so umherwandert. In Klagenfürt hat man ihn im GasthausZum Oesterreicher gesehen.

Wird hier und da ein Gestorbener noch immer für lebend erklärt, so kommt auch mitunter das Gegenteil vor. Ein seit vielen Jahrzehnten in verschiedenen Povinzen umherziehender alter Händler aus Danzig sagte zu einer meiner Schwestern (als diese zu ihm über den Tod Kaiser Wilhelm I. sprach): er wundere sich, dass sie wirklich glaube, der alte Kaiser wäre jetzt erst gestorben. Es sei doch ganz bekannt, dass man an Berlin immer zu bestimmter Stunde eine ausgestopfte Figur in das Eckfenster des Palais gestellt hätte, die dann ein paar Bewegungen ausgeführt habe.

War der alte Kaiser so nach der Meinung vereinzelter Personen längst tot, als er noch lebte, so können wir mit Überzeugung annehmen, dass er wie so viele seiner Vorfahren aus dem Bewusstsein seines Volkes niemals entschwinden und dort immer lebendig bleiben