3. (1. Ordentliche) Versammlung des XII. Vereinsjahres.
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abgesehen von der durch die Form des Dramas gebotenen zeitlichen Reduktion. Fehrbellin, das im ersten Akt als Hauptquartier des Kurfürsten erscheint, war am Tage der wirklichen Schlacht von den Schweden besetzt und wurde von dem brandenburgischen Heere erst nach dem erfochtenen Siege betreten. Personen, wie die Prinzessin Natalie, der Prinz von Hohenzollern, der Rittmeister von der Golz, der Graf von Sparren u. a. sind frei erfunden, nicht minder die Lokalnamen Hackelberge, Hackelbüsche, Hackelwitz, Arnstein etc. Der Kanzler Kalkhulm, von dem V. 235 die Rede ist, hat ein solches Amt nicht eigentlich bekleidet und war jedenfalls i. J. 1675 mehr als dreissig Jahre tot. (C. I). Küster: Das Jugendleben Friedr. Wilhelms (Berlin 1791) S. 12 f.) Der wirkliche Oberst v. Kottwitz spielte in der Schlacht eine ganz untergeordnete Rolle. Die Gemahlin des Kurfürsten hielt sich in der Zeit, da bei Fehrbellin gekämpft wurde, in Minden auf. Dass unmittelbar nach dem Sieg ein Waffenstillstand zwischen Brandenburg und Schweden geschlossen wurde, dass der Kurfürst sich mit dem Gedanken trug, irgend eine Prinzessin seines Hauses mit dem König von Schweden zu vermählen, diese beiden Motive sind lediglich der Phantasie des Dichters entsprungen. Ebenso ist die Voraussetzung, dass der Prinz dem Kurfürsten schon einmal am Rhein durch seine Hast und Unruhe zwei Siege verscherzt habe (V. 349, 1819), von Kleist zum Zwecke strengerer Motivierung rein erfunden u. s. w.
Er verfährt darin nicht anders, als früher bei der „Hermannschlacht“ und beim „Michael Kohlhaas“. Die historische Wahrheit gilt ihm so gut wie nichts. Er entnimmt der Überlieferung nicht mehr als die äussere Anknüpfung und einige ihm für die dichterische Gestaltung brauchbar erscheinende Motive. Im übrigen folgt er rücksichtslos seinen poetischen Bedürfnissen. Ilm leitete dabei der sichere Instinkt des grossen Dichters, der nach der schönen Äusserung Goethes in der Italienischen Reise (den 19. September 1786) aus Wahrheit und Lüge ein Drittes bildet, dessen erborgtes Dasein uns bezaubert.
Und dennoch müssen wir fragen, aus welchen Schriften er sich über die Schlacht und die Vorgänge, die sich in ihr abgespielt haben, orientiert hat. Denn wenn sich die Dichtung auf geschichtliche Momente stützt, so muss sich Kleist, wie wenig er sich auch an die historisch überlieferte Wirklichkeit hielt, mit ihnen irgendwie bekannt gemacht haben. Und in der Tat, so sehr er auch von dem wirklichen Verlauf der Begebenheit abweicht, so schimmert doch die Realität nicht bloss als allgemeine Grundlage, sondern noch in bestimmten Einzelheiten durch sein Phantasiegebilde hindurch, und man kommt notwendig zu dem Schluss, dass er sich in der über die Schlacht bei Fehrbellin vorhandenen Literatur umgetan hat.