Heft 
(1903) 12
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3. (1. ordentliche) Versammlung des XII. Vereinsjahres.

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suchender Poet und nicht als ein historische Kritik übender Geschichts­schreiber. Möglicherweise aber entging er ihm doch nicht. Dann aber musste er ihn als nicht vorhanden betrachten. Denn für die dichterische Behandlung musste jeder Zweifel an der Richtigkeit des Vorfalles schweigen. Im andern Falle war die Gestaltung des ganzen Vorwurfes unmöglich.

Vielleicht aber floss noch von einer andern Seite her dem Drama Stoff zu.

Im zweiten Akt ist in den Reihen der Brandenburger die falsche Nachricht vom Tode des Kurfürsten verbreitet. Auch dies Motiv ist eine historische Willkürlichkeit. Kleist verwendet es, um durch die Erzählung des Vorfalls Spannung, durch die Wirkung der gegensätzlichen Affekte lebhafte Bewegung zu gewinnen, die seinem Ideal vom Drama so wünschenswert erschien und nach der er ja bis zur Übertreibung strebte. Nun finde ich in der schon erwähnten militärwissenschaftlichen Schrift von Witzleben bemerkt (S. 81), dass der Kurfürst allerdings auf schwedischer Seite kurz vor der Schlacht totgesagt war. In einem vorkleistischen Werke finde ich davon keine Spur. Das Moment stammt also aus einer amtlichen, den älteren Geschichtsschreibern nicht zugäng­lichen Quelle. Da mir ein zufälliges Zusammentreffen dieses Umstandes mit dem dichterischen Motiv nicht wahrscheinlich ist, so möchte ich vermuten, dass der Offizier Kleist im militärwissenschaftlichen Unterricht oder von militärischen Freunden wie Rühle und Pfuel von jenem auf schwedischer Seite verbreiteten Gerücht Kenntnis erhielt. Aus derselben Quelle könnte dann auch das oben (S. 18:1) besprochene Motiv des Vor­gefechtes mit dem Posten von 10ÜO Mann stammen. Denn das Theatrum Europaeum erwähnt an der entsprechenden Stelle nur ganz allgemein die Arriöregarde. Die bestimmte Zahl 1(K)Ü nennt es nicht. Aus einer solchen Quelle denn dass Kleist Pufendorfs Werk selbst befragt habe, ist kaum wahrscheinlich. Was seine Dichtung sonst mit seiner Darstellung gemein hat, steht auch bei Merian, dessen Benutzung die vorgebrachten Argumente doch wohl als sicher erscheinen lassen.

So viel von den historischen Grundlagen des Dramas und seiner äussern Entstehung. Wie steht es nun aber mit der innern? Was trieb Heinrich von Kleist zur Bearbeitung gerade dieser Anekdote?

Heinrich von Kleist empfand, was bisher fast noch keinem grossen Künstler erspart blieb, ganz besonders hart: dass die Wirklichkeit der Betätigung des Genius Schranken setzt. Zuerst sah er sich als Offizier in seinem dichterischen Streben gehemmt, und er entsagte dem militärischen Dienst, um als freier Schriftsteller lediglich dem Rufe seiner Muse zu lauschen. Allein nun erst sollte er die Feindseligkeit der Welt oder, um mich milder auszudrücken, ihre Unempfindlichkeit gegen die Äusserungen einer starken und eigenartigen künstlerischen Individualität kennen