Heft 
(1903) 12
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3. (1. ordentliche) Versammlung des XII. Vereinsjahres.

lernen. Sein leidenschaftlicher Ehrgeiz wurde nicht befriedigt, sein heisser Durst nach Anerkennung blieb ungestillt. Wohl aber geriet er in arge materielle Not. Nach mehreren Jahren voll furchtbarer Kämpfe musste er froh sein, ein kleines Amt zu erhalten. Auch hier fühlte er sich wie Pegasus im Joche, und nach einiger Zeit gab er es auf, um literarische, darauf patriotische, dann wieder literarische Pläne zu ver­folgen. Sie scheiterten sämtlich, wie denn diesem unglücklichen Manne nichts gelang ausser einigen genialen Dichtungen. Nun bot ihm die Überlieferung einen Stoff, dessen Grundgedanke sich um einen ähnlichen Gegensatz dreht, wie der war, den er an sich so oft erlebte, den für das Drama zum Lebensinhalt gewordenen Gegensatz zwischen Individuum und Konvention, zwischen Einzelwille und Herrschermacht, um die Frage, ob in einem gegebenen Falle das Recht der einzelnen Persönlich­keit gegenüber einem ausdrücklichen Befehl Geltung erhielt und erhalten durfte, ob eine zum Vorteil und Gewinn führende Überschreitung eines höheren Gebots bei der Macht, von der es ansging, Billigung linde oder nicht.

Zugleich gab die Behandlung dieses Stoffes Kleist Gelegenheit, dem Ausdruck zu geben, was in der Zeit, da er die Dichtung schuf (im Herbst und Winter von 180910), sein Herz noch mehr bewegte als der ewige, auch von ihm schmerzlich durchlebte Kampf des Einzel­menschen gegen die überlegenen Mächte des Schicksals. Mehr als sein persönliches Los drückte ihn damals das der Gemeinschaft, der er an­gehörte, des Staates, der vom Feinde überwunden in schmählicher Knecht­schaft am Boden lag. Dieser Stoff schloss die Verherrlichung eines Sieges in sich, eines Sieges, der die Macht des preussischen Staates be­gründete. Einen weisen und klugen Herrscher vorzuführen gab er An­lass, einen Herrscher, der in der Stunde der höchsten Gefahr sein Land rettete. Durch die Tat an der Befreiung des Vaterlandes mitzuwirken blieb Kleist versagt, wie musste es ihn drängen, einen Vorwurf zu behandeln, der ihm die Möglichkeit gab, mit den Mitteln der Kunst seinem Volke den Wert und die Bedeutung des nationalen Staatswesens klar zu machen!

Wie er aber das Problem löste, das dieser Stoff darbot, bleibt ewig bewunderungswürdig. Er formte ihn unter dem Einflüsse Schillers, dessenWallenstein ihm besonders zum Vorbilde diente. Das haben Bralnu und Niejahr (Vierteljahrsschrift f. Literaturgesch. 0,409ff.) über­zeugend nachgewiesen. Vielleicht bestimmte ihn auch eine verwandte aus dem Altertum überlieferte Sage, die wir aus Livius kenuen (Niejahr, Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte Bd. 4 S. 61 ff'.). Trotz diesen Einflüssen blieb ihm noch reichlich die Möglichkeit, aus Eigenem zu geben und er machte davon ausgiebigen Gebrauch. Auch hier ging er nach seiner Art echt kleistisch zu Werke. In seiner reichen Natur