Heft 
(1903) 12
Seite
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Die Mäuse am Denkmal der k. Gertrud.

Anerbieten eingegangen war, fing er an auf einem Pfeifchen zu pfeifen, worauf von allen Seiten die Ratten und Mäuse herbeikamen und sich von dem Zauberer ins Wasser führen Hessen. Da nun jener seinen bedungenen Lohn verlangte, verweigerte man ihn, worauf er erbittert hinwegging, aber am Johannis- und Pauli-Tag morgens in veränderter Gestalt mit rotem Hut und schrecklichem Angesicht in die Stadt zurück­kehrte uud seine Pfeife wiederum in den Strassen hören liess, worauf aber, statt der Ratten und Mäuse, Kinder herbeikamen, die er durch die sog. bungelose 'Strasse zum Ostertore hinaus und in das Innere eines sich öffnenden Berges führte, welcher der Koppen- oder Koppel­oder Kopfeiberg liiess. Die Kinder kamen nicht mehr zurück, aus­genommen einige von ihnen mit körpexlichen Gebrechen, z. B. Taubheit und Stummheit. Die Zahl der verloren gegangenen Kinder belief sich auf 1B0. Die Deutung dieser durch verschiedene Inschriften, Monumente und Münzen lange erhaltenen Sage ist folgende. Man hat die Erfahrung gemacht, dass das Erscheinen einer grossen Anzahl von Ratten und Mäusen bösartigen Krankheiten vorhergeht; und wenden wir dieses auf die Geschichte von Hammeln an, so lässt sich die Entstehung dieser Sage folgendermassen deuten. Eine grosse Zahl von Ratten und Mäusen hatte die Bewohner von Hammeln mit ihrem Besuche erschreckt; sie waren aber auch bald wieder verschwunden, mutmasslich weil ein Rattenfänger durch ähnliche Mittel, wie im Orient die Schlangen­beschwörer benutzen, jene Tiere herbeilockte und bewirkte, dass sie seiner Pfeife folgten. Ob die Einwohner von Hammeln den bedungenen Lohn bezahlten oder nicht, kann dahin gestellt bleiben. Kurz darauf erfolgte eine ansteckende Krankheit unter den Kindern; und da entwickelte sich dann die Sage, der erbosste Rattenfänger habe durch Teufelskünste der Stadt dieses Unglück zugefügt. Dass er die Kinder in einen Berg geführt haben soll, hiess in der Bildersprache des Mittel­alters:er hat sie in die Unterwelt entführt; denn man dachte sich diese im Innern der Berge. Die Strasse, durch welche die Kinder zum Ostertore hinausgeführt wurden (meldet die Chronik), hiess die bungelose Strasse, weil keine Trommel (Bunge, Bummel) und fröhliche Musik in derselben ertönen durfte, und vielleicht deshalb, weil die Toten durch diese Strasse zu dem nahen Todesacker hinausgetragen wurden, und man es für unziemlich hielt, hier lustige Weisen ertönen zu lassen. Aus dieser Deutung ergiebt sich nun die Beziehung der Ratte zum Tode; und dass auch dieses Tier als Symbol der Vernichtung galt, beweist noch eine andere Sage, wonach 1240 in dem Dorfe Drancyles- Nouis bei Paris der Kapuziner Argionini Ratten und Mäuse vertrieb, aber dann, da er ebenfalls die ihm versprochene Belohnung nicht ex-hielt, zur Strafe die Haustiere weglockte, was soviel sagen will: als wäre eine grosse Seuche unter den Haustieren ausgebrochen. (Friedreich 432f.)