Die rote Farbe.
(Volkstümliches aus alter und neuer Zeit.)
Vortrag, gehalten in der „Brandenburgia“, Sitzung vom 27. November 1907. Von Elisabeth Lemke.
Geehrte Anwesende, za meinen frühesten Erinnerungen in meiner Heimat Ostpreußen gehört das rote Bändchen, das neugeborenen Kindern um ein Handgelenk geknüpft wird; auch die neugeborenen Kälber und das zum Verkauf getriebene Vieh, sowie der zu neuer Arbeit hergerichtete Webstuhl erhalten ein rotes Band. Es ist dies eine seit Ur- gedenken gepflegte und sehr weit verbreitete Sitte, so daß ich mich nicht über jenen Streifen roten Wollenstoffs wunderte, der in der Via Merulana in Rom eine Verkaufsbude zu schützen hatte; der schmale Lappen hing neben einem ebenfalls vielsagenden Ziegenhorn, zwischen Tomaten usw., als porta fortuna und als Abwehrmittel gegen den bösen Blick.
Wie oft doch hörte ich bei unseren Landleuten die mit vollster Überzeugung gegebene Versicherung: gegen die rote Farbe kämpfe der böse Zauber vergebens an.
Warum? — Sicherlich, weil die rote Farbe an Blut mahnt. 1 )
Welches Geheimnis in der Natur konnte den Menschen wichtiger sein, als der innige Zusammenhang zwischen Blut und Leben? Und lag es nicht nahe, diese Beiden als die höchsten Opferwerte anzusehen? — Schon die Hingabe weniger Tropfen Blut (wie anderwärts abgeschnittenes Haar) wird als vollgültiges Opfer angesehen, um der (so vieles gewährenden, aber alles wieder beanspruchenden) Gottheit zu genügen. Nunmehr galt das Leben für geheiligt und gesichert.
*) Die nicht außer acht zu lassende, mitsprechende Sonderstellung der roten Farbe an sich erwähnte ich in einem viele Jahre zurückliegenden Vortrage im „Verein für Volkskunde“, auf Herman Schräder hinweisend, der in seiner Abhandlung „Das Kot in sprachlichen Bildern und Gleichnissen“ (Ztschr. f. deutsche Sprache; Jahrg. VIII, Heft 8) sagt: daß ein Blinder [Blindgeborener] — wenn er sich die rote Farbe vorstellen sollte — diese mit „Trompetengeschmetter“ vergleichen würde. Ein solcher Vergleich wird Herrn Dr. Richard Cohn interessieren, der (nach meinem Brandenb.-Vortrage) Herrn Geh.-R. Friedei die weiter unten (im Nachtrag) gebrachten Mitteilungen übersandte.
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