Heft 
(1908) 17
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Über die Notwendigkeit einer persönlichen Volkskunde.

Von Ernst, Friedei.

Vor Kurzem erging die Einladung zu einer Zusammenkunft in Graz, welche sich mit sachlicher Volkskunde beschäftigen soll. In dem Anschreiben wird darauf hingewiesen, daß die Volkskunde in der Haupt­sache bislang vom philologischen und mythologischen Standpunkt betrieben worden sei. So dankbar das auch zu begrüßen in der Tat ist die Anregung zur Begründung und Zusammenfassung einer wissen­schaftlichen Volkskunde, als eigenartiger und besonderer Disziplin von Sprach-, Sagen- und Sitten-Forschern hauptsächlich ausgegangen, so dankbar es zu begrüßen, daß nunmehr den volkstümlichen Gegen­ständen mehr Beachtung geschenkt werden soll, sowohl den in Museum und Sammlung aufgestellten, den von unserm Volk auf dem Acker und Felde, im Wald und auf dem Wasser noch jetzt benutzten als auch dem Wirtschafts- und Hausgerät und den Tausenden von sonstigen Gegen­ständen (z. B. Kleidung und Tracht) die volkstümlich sind und an die sich eine lange Entwickelungsgeschichte anreiht, trotzdem und alledem, giebt es noch eine Seite der Volkskunde, welche so gut wie brach liegt, das ist die persönliche Volkskunde. Alles was ich bisher aufgeführt: Die Sprache und die Mundarten, die Sagen, Sitten und Gebräuche, die Häuser und Wohnungen, die Ställe und sonstigen Nebengebäude, die unendlich scheinenden Reihen der volkstümlichen Gegenständen sind doch nur die Erzeugnisse des Volksgeistes, wie aber steht es mit unserer Kenntnis der Persönlichkeit der Deutschen, der Persönlichkeit ihrer einzelnen Stämme in Niederdeutschland, Mitteldeutschland, Oberdeutsch­land? Wie steht es mit den Personengruppen innerhalb dieser Stämme (Alemannen, Schwaben, Franken, Bayern, Thüringen, Niedersachsen usw.) und noch weiter in Unterabteilungen mit den Personengruppen innerhalb dieser Stammesbezirke, wie mit unserer Personalkenntnis der Stadt- und Landbevölkerung, wenn wir sie als Küsten- oder Binnenbewohner, als Bewohner der Ebene und Steppe, als Bewohner des Mittel- und des Hochgebirges, als Bewohner einer bevorzugten warmen Gegend beziehungs­weise als solche einer sehr trockenen oder einer sehr feuchten, einer

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