Heft 
(1908) 17
Seite
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Über die Notwendigkeit einer persönlichen Volkskunde.

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Gruppierungen vorgenommen, die auch der eigentlichen Volkskunde zu Gute kommen. Ich will nur erinnern an die Sonderung der Schädel­typen, wonach die norddeutsche Bevölkerung (insbesondere Schleswig- Holstein, Mecklenburg, Oldenburg usw.) die meisten Langschädel, Süd­deutschland und Südwestdeutschlaud die meisten Spitz- und Rundköpfe aufweist.

Das Alles aber betrifft das Knochengerüst und den Toten, nicht den lebenden Menschen. Auch diesen hat man allerdings durch Körper­messungen, durch Feststellung der Augenfarbe und der Haarfarbe zu ergründen, zu gruppieren versucht und damit einige Resultate erzielt z. B. daß die blauäugige und blonde Rasse mehr im Norden, am wenigsten im Süden und Südwesten vertreten ist. Aber Eins hat man bisher nicht zu ermitteln und festzustellen versucht, das ist der Gesichts­ausdruck, die Haltung und die Bewegung der einzelnen Person.

Damit komme ich auf den Kernpunkt der persönlichen Volkskunde das ist die Physiognomik. Vergeblich hat sich Rudolf Virchow bemüht, auch nach dieser Richtung hin vom anatomisch-atheologischen Standpunkt Anhaltspunkte zu gewinnen. Man hat z. B. auf einem Frauenschädel aus den schweizerischen Pfahlbauten (die sogen. Frau von Auvernier) nach Maßgabe des Knochengerüsts die Weichteile zu rekonstruieren versucht, dabei aber nur ein unvollkommenes Resultat etwa vergleichbar dem aus den besterhaltenen Mumienschädeln, gewonnen. Man hat von verstorbenen zu wilden Stämmen gehörigen Individuen die Totenmaske abgenommen, man hat von einzelnen Wilden (Patagoniern, Grönländern, Südseeinsulanern pp.) und zwar von den lebenden Menschen Kopf-Abgüsse abgenommen, allemal aber nur Zerrbilder erhalten, die der eigentlichen Physiognomie durchaus nichts Befriedigendes zu geben vermochten.

Rudolf Virchow, indem er den volkskundlichen Wert der Physio­gnomik vollinhaltlich anerkannte, hat markante Physiognomien in genauster Weise zu messen versucht, Mund, Nase, Augen, Ohrenpro­portionen, aber die eigentliche Physiognomik hat er durch Messungen nicht festzustellen vermocht. Dazu ist der Gesichtsausdruck ein zu wechselnder, was niemand besser zu beurteilen versteht, als die Künstler, die Maler, insbesondere die Bildhauer, die zwar auch das Messen der einzelnen Gesichtsteile nicht verschmähen, den eigentlichen Gesichtsaus­druck, die Physiognomie aber nur mühsam aus fortgesetzten Beobachtungen künstlerisch zu fixieren und zum Ausdruck zu bringen vermögen.

Wenn ich mich auf den wichtigsten Teil der persönlichen Volks­kunde, die Physiognomienkunde beschränke, so meine ich, daß dieselbe mit Hülfe der Photographie in der Hauptsache in der Tat zu befriedigen sein wird.

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