240
Friedrich Wienecke.
3. Das Schlüsselbuch.
Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts lebte in Lögow eine Witwe mit Namen Berkholz. Sie wurde vom Gute unterhalten und wohnte in einem alten, zerfallenen Gebäude. Im Dorfe wurde sie nur „Mutter Berkholz“ genannt und stand in dem Rufe, daß sie Diebe entdecken könnte. Zu diesem Zwecke besaß sie ein „Schlüsselbuch“. Es war ein altes Gebetbuch, das sie von „Enn to W enn“ d. h. vom Ende bis zu Anfang durchlesen hatte. Das GeUetbucliTiatte ein Mörder auf seinem letzten Gang benutzt, und vom Urgroßvater hatte es sich fortgeerbt. Kam jemand zu Mutter Berkholz, um einen Dieb ausfindig machen zu lassen, so forschte sie genau nach den Umständen, .unter welchen der Diebstahl geschehen war, und hieß ihn am Freitag Mitternacht wiederkommen. Sie setzte sich dann ihre große Hornbrille auf, verhüllte das Licht und nahm das „Schlüsselbuch“ mit feierlicher Miene aus dem Kotier. Sie legte das starke Buch so hin, daß die Blätter von einer Seite zur andern schlagen mußten und rief, indem sie drei Kreuze schlug: „Schlüsselbuch, ich tu’ Dir fragen, ob Du mir den Dieb willst sagen!“ Das geschah dreimal schnell hintereinander und während dieser Zeit hatte der Bestohlene die Namen der Verdächtigen schnell zu sprechen. Bei welchem Namen nun die Blätter stehen blieben, das war der Dieb. War die Sache versehen, oder hatte sich das „Scblüsselbuch“ nicht deutlich erklärt, so mußte die Frage am nächsten Freitag um dieselbe Zeit wiederholt werden. In dringenden Fällen gab auch das „Schlüsselbuch“ am Sonntag unter der Predigt Antwort. Die Kraft des „Schlüsselbuchs“ lag darin, daß der Raubmörder in der Nacht des Freitags in dem Buche gelesen hatte und durch die Gebete bekehrt worden war.
4. Der Seher.
In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebte in Lögow ein Mann, der bei den Dorfbewohnern in dem Rufe stand „He kann watt sehen“, d. li. „Er kann etwas sehen.“ Er war am Neujahrstage, der ein Sonntag war, geboren, an einem Sonntage getauft worden, und alle seine bedeutendsten Lebensschicksale hatten sich an einem Sonntage zugetragen. Mit ihm war es nicht richtig; er konnte etwas sehen. Er wußte genau wer im Jahre im Dorfe starb. Er begleitete die Kranken vor ihrem Tode zum Kirchhof, damit sie sich eine Grabstätte aussuchen möchten. Während der Sylvesternacht wurden ihm die Namen der Sterbenden bekannt. Erkrankte jemand, so hieß es: He is joa woll met em toin Kirchhof weßt“, (d. i. Er ist ja wohl mit ihm zum Kirchhofe gewesen). Vor dem Tode des Gutsherrn (Oberstleutnants v. Zieten, gest. 1834) sali er diesen in die hell erleuchtete Kirche gehen. Er wollte ihn zurückhalten; aber der Herr sprach finster zu ihm: „Johann! bleib’ zurück!