Heft 
(1908) 17
Seite
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Karl Wilke.

Sonnenjahr mutmaßt, so hat er darin nicht ganz unrecht. Sonnen- und Erdengottheit hatten sich alljährlich gleich allen Irdischen einer Buße zu unterwerfen, so glaubten unsere Voreltern und*zwar wird die Sonne durch Wasser und Erde geheiligt und entsühnt, während die Erdgöttin durch den Feuerzauber der Waberlohe makellos ward. Licht und Finsternis sind wie Leben und Tod, Wärme und Kälte, Sommer und Winter, Feuer und Wasser aufeinander angewiesen und dieser hehre Glauben ließ unsere Voreltern osterfroli sterben.

Die Bohrte Wodans im Frühling. Von der vorerw'ähnten gött­lichen Bohrte Wodans, im Hävamal der Edda besungen, will ich nun sagen. Sie wird angewendet, den Menschen den Frühling zu bescheren, um in den Besitz des Sinnregers zu gelangen, den die Winterriesen in Haft haben. Um das zuwege zu bringen, verwandelt sich der Licht- und Sonnengott Wodan mit dem Stab als Zeitenordner in einen Bohrer, dann in eine Schlange, schließlich in einen Vogel, um aus dem dunkeln Schoß der Erde, aus ihrer winterlichen Ilut den lebenspendenden Trank zu erbohren, welchen die Winterriesen mit ihrer Tochter, der winter­lichen Erde, in dem Winterberg gefangen halten. Es ist das in Eis­fesseln geschlagene Wasser der Erde und die Winterriesen verhindern, daß das Wasser als befruchtender Tau und Regen die Erde bewässert und zum Wohle der Menschheit wie der Götter müssen alljährlich die Riesen überlistet werden, denn als Verkörperer der rohen Naturgewalten sind sie nicht anders zu überwinden. Die ErdenjuDgfrau im Innern des Winterberges als Bewahrerin des Tranks wird von dem bohrenden Licht­gott, dem Sonnenstrahl erreicht in ihrer Bergeshaft und durch den Zauber der Bohrte zur Liebe gezwungen. Sie kann nicht widerstehen und bietet von selbst dem Lichtgotte den Trank dar, den er für seine österliche Heiligung ebenso dringend bedarf, wie das Menschengeschlecht für seine Weiterexistenz und den Frühling. Hierauf verwandelt sich der Sonnengott in eine wassersaugende Wolke und entflieht in dieser mit der Feuchtigkeit, denn die Frühlingssonne hüllt sich bald in Wolken und entführt in solchen das Schmelzwasser über weite Länderstrecken, verfolgt von den Winterriesen. Der erste warme FrübliDgsregen macht jedoch ihrem Dasein ein Ende, denn die Natur erwacht zu neuem Kampf, d. i. zu neuem Leben. Es wurde daher der erste Frühlingsregen be­sonders heilig gehalten und genoß dieselbe Wertschätzung bei den schön­heitsdurstigen Frauen wie das Osterwasser. Auf die Geistestätigkeit und Dichtkunst bezogen ward er Sinnreger geheißen, denn es beginnen sich alle Geisteskräfte mit neuer Frische zu regen. Das schließt aber nicht aus, daß man in abgünstiger Weise vongeriebenen Menschen spricht, von einerverbohrten Ansicht, deren Träger man einen ver­bohrten oder bornierten Menschen nennt, obgleich Feuer und Wasser mit Erleuchtung gleichbedeutend waren.