Intelligenz und Hirnschädigung 203
Unsere varianzanalytischen und korrelativen Befunde stützen die Hypothese über einen positiven Zusammenhang zwischen ‚„‚Intelligenz‘‘ und„Lernfähigkeit‘‘. Die Korrelationen in der Größenordnung von.29—.38 zwischen Ausgangswerten und„Gewinnwerten‘‘ im Raven-Test dürfen in ihrer Aussagekraft nicht überschätzt werden. Denn erstens verbirgt sich hinter dem RavenAusgangswert ein spezifisches Intelligenzkonzept(unter besonderer Betonung der„Denkfähigkeit‘‘), und zweitens kann der Gewinnwert nur unter Vorbehalten als Indikator für eine spezifische Form der(intellektuellen)„Lernfähigkeit‘‘ betrachtet werden.
Die Ergebnisse erhalten erst in Verbindung mit den in Abschnitt 1b) geschilderten Untersuchungen ihren Stellenwert. Es erscheint sinnvoll, unter einem fruchtbaren Intelligenzbegriff(im Sinne der„Adaptionsfähigkeit‘‘) neben der häufig überbetonten„Denkfähigkeit‘‘ auch die Konzepte„Lernund Erinnerungsfähigkeiten‘‘ einzuschließen. Entsprechend ergibt sich die Forderung, in Intelligenztests solche Subtests aufzunehmen, die verschiedene Aspekte des Lern- und Erinnerungsvermögens prüfen. Zur Begründung sei auch darauf verwiesen, daß Intelligenztests regelmäßig zur Prognose des Verhaltens eines Individuums in Situationen herangezogen werden, in denen es nicht nur Denk- sondern auch Lernleistungen erbringen soll(z. B. im schulischen Bereich). Es ist zu erwarten, daß für solche Fragestellungen die prognostische Validität eines Intelligenztests nach Einbeziehung von Lernaufgaben verbessert werden kann(vgl. Garrison, 1928; Olson u. a., 1968). Neben Guthke(1972) bemüht sich insbesondere Budoff(1967, 1970 a und b) durch die systematische Analyse der„Lernfähigkeit‘‘ bzw. des„Lernpotentials‘‘ darum, neue prognostische Varianzquellen zu erschließen(vgl. auch Wimmer, 1975).
Aus pädagogischer Sicht betrachtet besagt der positive Zusammenhang zwischen Intelligenz und Lernfähigkeit u.a. folgendes: Sofern keine kompensatorischen Förderungsmaßnahmen ergriffen werden, z.B. in Gestalt eines differenzierenden, individualisierenden Unterrichts im Vorschul- und Schulalter, werden die Intelligenteren von den angebotenen Lernmöglichkeiten stärker profitieren als die weniger Intelligenten, so daß sich der Leistungsabstand zwischen beiden Gruppen ständig vergrößert(vgl. Abbildung 1). Unter„Chancengleichheit“ ist demnach nicht nur eine besondere Förderung sozial benachteiligter Gruppen zu verstehen, sondern eine verstärkte pädagogische Bemühung um Kinder, die weniger intelligent und damit auch weniger„lernfähig‘‘ sind.
Literatur
Aebli, H.: Die geistige Entwicklung als Funktion von Anlage, Reifung, Umwelt- und Erziehungsbedingungen. In: H. Roth(Hrsg.): Begabung und Lernen. Stuttgart: Klett, 1969, S. 151-192
Affolter, F.: Diagnostische und therapeutische Probleme bei frühkindlicher Hirnschädigung aus pädoaudiologischer Sicht. In: H. Städeli(Hrsg.): Die leichte frühkindliche Hirnschädigung. Bern: Huber, 1972, S. 60—75
Anderson, R. C.: Individual differences and problem solving. In: R. M. Gagne(Hrsg.): Learning and individual differences. Columbus: Merrill, 1967, S. 66—89