Buchbesprechungen
Meyer, Dorothea: Erforschung und Therapie der Oligophrenien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Berlin(Marhold) 1973, 174 S. DM 17,—.(Texte und Beiträge zur Geschichte der Sonderpädagogik, hrsg. von Prof. Dr. Erich Beschel und Prof. Dr. Gerhard Heese).
Dieses Buch ist bemerkenswert, weil es als medizinhistorische Veröffentlichung einen Beitrag zur Geschichte der Heilpädagogik liefert.(Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation am Institut zur Geschichte der Medizin der Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg (Leitung Professor Heinrich Schipperges) angenommen.) Der Schwerpunkt der Arbeit liegt„auf den medizinisch-naturwissenschaftlichen Beiträgen zu einer Erforschung und Therapie der Oligophrenien‘‘(S. 144). Aber die Verfasserin sieht ihre Aufgabe auch darin,„die geistes- und kulturgeschichtliche Entwicklung aufzuzeigen, die zu einem neuen Verständnis von dem Phänomen des Schwachsinns führte, und damit die Erforschung und Therapie der Oligophrenien ermöglichte‘‘(S. 9). So wird auf die medizinisch-pädagogischen und christlich-sozialen Bestrebungen der Zeit hingewiesen. Die Verfasserin sieht ein neues Arbeitsfeld entstehen und betrachtet ihre Arbeit als Anregung für weitere Untersuchungen zur Geschichte der Heilpädagogik und ihrer Hintergründe, also für eine„Analyse der geistesgeschichtlichen Bewegungen dieser Zeit sowie der gesellschaftlichen Bedingungen und Veränderungen‘‘(S. 147). Auch Beschel weist in seinem Nachwort darauf hin(S. 172), daß Beiträge zur Geschichte der Heilpädagogik von den verschiedensten Disziplinen(z. B. der Geschichte der Medizin) geleistet werden sollten. Die vorliegende Veröffentlichung zeigt Verbindungen der Geschichte der Heilpädagogik zur Geschichte der Theologie, zur Geschichte der Medizin, zur Geschichte der Naturwissenschaften, usw. Monographien zur Geschichte der Heilpädagogik, die solche Verbindungen aufzeigen, liegen auch schon als unveröffentlichte Wissenschaftliche Hausarbeiten der Studiengangseinheit Heil- und Sonderpädagogik an der PhilippsUniversität Marburg vor, z. B. Buerhenne, Christa: Medizinische Untersuchungen über den Kretinismus aus dem 19. Jahrhundert, 1972; Schönbeck, Manfred: Äußere Merkmale als Zeichen geistiger Veranlagung in der„Symbolik“ von C. G. Carus 1973; Neßler, Dörthe: Das Leben der Kretinen in der Gesellschaft im 19. Jahrhundert nach zeitgenössischen Berichten, 1973; Böhme, Ulrich: Die Geistigbehindertenpädagogik Pastor Sengelmanns aufgrund von Theologie und Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts, 1974.
Das Buch von Dorothea Meyer hat folgenden Inhalt: Mit dem Beginn eines neuen naturwissenschaftlichen Denkens im 16. Jahrhundert erscheinen auch die ersten Beschreibungen des endemischen Kretinismus. Die eigentliche Erforschung des Kretinismus wird Ende des 18. Jahrhunderts durch die Aufklärung angeregt: Ärzte und Naturforscher untersuchten sein Vorkommen, seine Ursachen und empfahlen hygienische Maßnahmen zu seiner Bekämpfung. In Deutschland und in der Schweiz wurden nach 1841 Anstalten zur Heilung und Verhütung des Kretinismus gegründet, die einzeln mitsamt ihren Gründern aufgeführt werden. In den Anstalten wurden Kretinen ärztlich und pädagogisch behandelt, wobei auch nach den Ursachen des Kretinismus geforscht wurde. Die Heilung und Verhütung des Kretinismus erschien als Menschheitsaufgabe, welche von Ärzten, Theologen und Pädagogen unterstützt wurde. Nachdem die Mediziner erkannten, daß Heilungen des Kretinismus nicht in dem Umfang möglich waren, wie man erhofft hatte, zogen sie sich immer mehr aus der Anstaltstätigkeit zurück. Die Leitung der Anstalten ging damit immer mehr in die Hände der Theologen und Pädagogen über. Damit werden die Anstalten Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Schwachsinniger, während die Erforschung des Schwachsinns(nach 1860) von Universitätsinstituten und Kliniken übernommen wird.
Die Grundlagen dieser Arbeit sind, wie die Bibliographie und die Aufstellung der Quellen(S. 13-15) zeigen, mit Fleiß und Sorgfalt zusammengestellt, wobei Primär- und Sekundärliteratur, d.h. Quellen und Darstellungen, unterschieden werden. Die Verfasserin hat auch schwer zugängliche Originalschriften ausfindig gemacht. Sie hat aber auch