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Die Domina Juliane von Putlitz.
Von A. v. Auers Wald.
Vor mir liegt ein dickes Aktenbündel aus dem Staatsarchiv.
Schriftstück an Schriftstück ist aneinander geheftet. Die Bogen sind zum Teil vergilbt, die Handschrift wechselt. Mitunter ist sie leidlich gut zu lesen, mitunter so kraus und so verschnörkelt, daß die Deutung einzelner Worte auch beim emsigsten Bemühen nicht möglich ist. Allen Schriftstücken ist gemeinsam, daß sie überaus reichlich mit lateinischen Brocken und mit sonderbar veralteten Fremdwörtern durchsetzt sind. So ist es ziemlich mühsam, sie zu lesen. Und lohnt sich diese Mühe? Was enthalten denn solche Aktenstücke für gewöhnlich? Meist doch nur alte Streitigkeiten, lange abgetan und für die Gegenwart ohne Wichtigkeit.
Und doch möchte ich von diesem alten Aktenstück, das auch nur Streitigkeiten über Streitigkeiten enthält, erzählen. Ich habe viele Stunden hintereinander darüber gesessen, habe tief gefesselt weiter und weiter gelesen. Und es ist mir seltsam gegangen; alte Klage und alter Groll sind noch einmal vor mir lebendig geworden; aus diesen vergilbten Blättern haben sich Menschenangesichter erhoben und haben mich fordernd angeschaut. Sie haben mich zum Richter aufgeruseu über diese Dinge, die so lange zurückliegen. Was sie in ihrem Leben erschütterte, ist nicht zur Ruhe gekommen, geisterhaft lebt es wieder aus und fordert immer von neuem seinen Urteilsspruch. Wenn das die Art aller alten Akten ist, so liegt etwas Bannendes in ihnen, eine gefährliche Macht, der mau sich nicht entziehen kann. Ich bin Partei geworden, und nun, Leser, will ich Dir von dieser Geschichte erzählen.
Sie beginnt damit, daß König Friedrich der Erste auf Veranlassung seiner Gemahlin Sophie Charlotte im Jahre 1708 dem Kloster zu Heiligengrabe, das heißt der Domina und dem Konvent mitteilte, daß er von seinem ihm bei jedem Kloster zustehenden Recht der ersten Stellenbesetzung Gebrauch mache und zwar zu Gunsten der Juliana Dorothea Ganssin Edlen zu Putlitz. Diese sei in die erste vakant werdende Stiftsstelle im Kloster aufzunehmen. Es scheint, daß in Heiligengrabe von einem solchen Vorrecht nichts bekannt gewesen sei, jedenfalls noch niemals davon Gebrauch gemacht worden war. Heiligengrabe war ein sehr selbständiges und hochfahrendes Kloster, das sich auch stets, mit ungewöhnlichen, erkämpften Rechten, besonderer Bevorzugung hatte rühmen dürfen. Die königliche Verfügung paßten der Domina und dem Konvent in keiner Weise. Einmal