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(1.1.2019) 15
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VONGEPUZZELTEN SPORTBIOGRAPHIEN"

Professor Dr. Jürgen Baur hielt seine Antrittsvorlesung

Der ArbeitsbereichSport und Gesell­schaft des Institutes für Sportwissen­schaft der Universität hat noch viel vor. Davon kündete jedenfalls kürzlich die gut besuchte Antrittsvorlesung des Lei­ters Professor Dr. Jürgen Baur, der Über die Veralltäglichung und Indivi­dualisierung des Sporttreibens sprach. Da diese Antrittsvorlesung gleichzeitig als Eröffnungsveranstaltung desPots­damer Forum Sport und zur Einwei­hung des Arbeitsbereiches gedacht war, kam Jürgen Baur nicht umhin, auch einige grundsätzliche Fragen an­zuschneiden. So skizzierte er die durch die deutsche Vereinigung und starke Pluralisierungs- sowie Individualisie­rungsbestrebungen entstandene Her­ausforderung für die universitäre Sport­wissenschaft, der man in Brandenburg mit Analysen und Prognosen desPots­damer Forum Sport begegnen wolle.

Hinter diesem Namen verbirgt sich ein Ko­operationsprojekt der Potsdamer Sportwis­senschaft mit dem Bildungswerk des Landes­sportbundes, mit dessen Hilfe man die sport­lichen Entwicklungen in Ost- und West­deutschland analysieren und kon- zeptualisieren möchte. Denn - so Baur in seiner Antrittsvorlesung - Sport ist schick geworden, gehört zum modernen Lebensstil in unzäh­ligen Varianten und steht deshalb auch in Gefahr, ohne Zielperspek­tiven nur so dahinzutreiben.

Den Ausgangspunkt dafür bildet für Professor Baur und seine Mitarbei­ter die Beobachtung, daß sich der vereinsorganisierte Sport zwar zu einer Massenbewegung entwickelt hat: Den drei Millionen Vereins­sportlern des Jahres 1950 stünden mittlerweile sechs Mal so viele ge­genüber, was bedeute, daß etwa je­der dritte Bundesbürger heute ei­nem Sportverein angehörte. Trotz­dem jedoch hätten die Sportverei­ne ihr Monopol auf den Sport ver­loren, seien die Konkurrenten in Form von kommerziellen Sportan­bietern, Krankenkassen, Volkshoch­schulen und Wohlfahrtseinrichtun­gen wie Pilze aus dem Boden ge­schossen.

Parallel zu dieser Entwicklung, so Baur, sind neben die traditionell in­stitutionalisierten Sportarten zahl­reiche neue getreten, die - geht man von ihren Namen aus - alle­samt demamerican way of life entliehen sein müssen: Die Rede ist

vom Surfen, Squash-Spielen, Rafting, Free- climbing, Snowboarding, Bungee-Jumping, ... Der Sportwissenschaftler Baur kam sogar auf zahlreiche weitere Versionen, bedingt durch den anhaltenden Gesundheits- und Fitnessboom (Jogging, Walking, Wogging, Stretching, ... sowie eine Bergmeditation in der Toskana inclusive einwöchigem Urschrei für DM 5000 ließen grüßen). Vor diesem Hin­tergrund konstatierte er:Die Inhalte des Sports erweitern sich ins Unübersichtliche. Doch nicht nur die Gefahr einer deshalb dro­henden Orientierungslosigkeit des Einzelnen bildete seinen und desPotsdamer Forum Sport Ansatzpunkt. Vielmehr rief auch die Beobachtung, daß Sporttreiben nicht mehr auf bestimmte soziale Kontexte (wie z.B. Sportvereine) festgelegt ist und zunehmend individualisiert betrieben wird, die Potsdamer Sportwissenschaftler auf den Plan.Sport­engagements haben heute eine ganz persön­liche Färbung bekommen, die sich von den sozial vorgebahnten Mustern früherer Zeiten deutlich unterscheiden, erklärte Baur. Die­seSportkarrieren" früherer Zeiten beschrieb er dabei mit dem Eintritt eines Jungen (und etwas seltener Mädchens) in einen Fußball-, Turn-, Schwimm- oder Leichtathletikverein,

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Anything wrong?

Parks und Naherholungsgebiete galten früher als Orte des geselligen und gesellschaftlichen Flanierens sowie der er­holsamen Spaziergänge in der freien Natur. Heute haben sie sich großteils in Sportareale verwandelt, auf denen die Radler die Jogger gefährden - von den wenigen, noch verbliebenen Spaziergängern ganz zu schweigen. Zeichnung: vi

Hielt seine Antrittsvorlesung: der Sportwissen­schaftier Professor Dr. Jürgen Baur. Foto: Rüffert

dem derjenige dann für gewöhnlich auch län­gere Zeit treu blieb.

Heute dagegen dominierten zufällige Ver­einsbeitritte, Mehrfachmitgliedschaften und Fluktuationen. Sollte das Ergebnis gar ein bindungsarmerSporthopper als neuer Sportlertypus sein, der in seinemUmher­hoppen genauso wenig Erfüllung findet wie der femsehgewohnteChannel-Hopper"? Jürgen Baur legte sich bei der Antwort dar­auf nicht fest. Er zeigte vielmehr einerseits auf, daß die unter Soziologen geführte Indivi­dualisierungsdebatte auch für die Analyse der Sportengagements eine wichtige Rolle spielt, diegepuzzelte Sportbiographie dem­nach als ein Teil der für moderne Gesellschaf­ten so typischen Differenzierungs- und Plura- lisierungsprozesse zu sehen ist: Genauso, wie Lebensläufe destandardisiert würden, lösten sich die Sportbiographien aus ihrer sozial vorgespurten Bahn.

Doch andererseits betonte der Sportwissen­schaftler auch eine berechtigte Skepsis ge­genüber radikalisierten Individualisierungs­ängsten: Da stets nur mit vorgefertigten Ele­menten biographisch gebastelt würde, gin­gen alle Individualisierungen stets mit neu­er Institutionalisierung Hand in Hand, kön­ne der Einzelne also doch wiedernur zwi­schen vorgeformten Sportprogrammen und somit Rahmenbedingungen wählen.

Von diesem Spannungsfeld ausgehend, so der Leiter des Arbeitsbereichs Sport und Gesellschaft, möchten er und seine Mitarbei­ter nun ihre besondere Aufmerksamkeit den Sportengagements und -biographien im Kon­text der ostdeutschen Lebensverhältnisse widmen. Mit Hilfe theoretischer Differenzie­rungen und empirischer Arbeit sollen die in Professor Baurs Antrittsvorlesung angedeu­teten Zusammenhänge dadurch überprüft und - wenn möglich - entschlüsselt werden.

Hg.

PUZ 15/94

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