VON „GEPUZZELTEN SPORTBIOGRAPHIEN"
Professor Dr. Jürgen Baur hielt seine Antrittsvorlesung
Der Arbeitsbereich „Sport und Gesellschaft“ des Institutes für Sportwissenschaft der Universität hat noch viel vor. Davon kündete jedenfalls kürzlich die gut besuchte Antrittsvorlesung des Leiters Professor Dr. Jürgen Baur, der „Über die Veralltäglichung und Individualisierung des Sporttreibens“ sprach. Da diese Antrittsvorlesung gleichzeitig als Eröffnungsveranstaltung des „Potsdamer Forum Sport“ und zur Einweihung des Arbeitsbereiches gedacht war, kam Jürgen Baur nicht umhin, auch einige grundsätzliche Fragen anzuschneiden. So skizzierte er die durch die deutsche Vereinigung und starke Pluralisierungs- sowie Individualisierungsbestrebungen entstandene Herausforderung für die universitäre Sportwissenschaft, der man in Brandenburg mit Analysen und Prognosen des „Potsdamer Forum Sport“ begegnen wolle.
Hinter diesem Namen verbirgt sich ein Kooperationsprojekt der Potsdamer Sportwissenschaft mit dem Bildungswerk des Landessportbundes, mit dessen Hilfe man die sportlichen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland analysieren und kon- zeptualisieren möchte. Denn - so Baur in seiner Antrittsvorlesung - Sport ist schick geworden, gehört zum modernen Lebensstil in unzähligen Varianten und steht deshalb auch in Gefahr, ohne Zielperspektiven nur so dahinzutreiben.
Den Ausgangspunkt dafür bildet für Professor Baur und seine Mitarbeiter die Beobachtung, daß sich der vereinsorganisierte Sport zwar zu einer Massenbewegung entwickelt hat: Den drei Millionen Vereinssportlern des Jahres 1950 stünden mittlerweile sechs Mal so viele gegenüber, was bedeute, daß etwa jeder dritte Bundesbürger heute einem Sportverein angehörte. Trotzdem jedoch hätten die Sportvereine ihr Monopol auf den Sport verloren, seien die Konkurrenten in Form von kommerziellen Sportanbietern, Krankenkassen, Volkshochschulen und Wohlfahrtseinrichtungen wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Parallel zu dieser Entwicklung, so Baur, sind neben die traditionell institutionalisierten Sportarten zahlreiche neue getreten, die - geht man von ihren Namen aus - allesamt dem „american way of life“ entliehen sein müssen: Die Rede ist
vom Surfen, Squash-Spielen, Rafting, Free- climbing, Snowboarding, Bungee-Jumping, ... Der Sportwissenschaftler Baur kam sogar auf zahlreiche weitere Versionen, bedingt durch den anhaltenden Gesundheits- und Fitnessboom (Jogging, Walking, Wogging, Stretching, ... sowie eine Bergmeditation in der Toskana inclusive einwöchigem Urschrei für DM 5000 ließen grüßen). Vor diesem Hintergrund konstatierte er: „Die Inhalte des Sports erweitern sich ins Unübersichtliche.“ Doch nicht nur die Gefahr einer deshalb drohenden Orientierungslosigkeit des Einzelnen bildete seinen und des „Potsdamer Forum Sport“ Ansatzpunkt. Vielmehr rief auch die Beobachtung, daß Sporttreiben nicht mehr auf bestimmte soziale Kontexte (wie z.B. Sportvereine) festgelegt ist und zunehmend individualisiert betrieben wird, die Potsdamer Sportwissenschaftler auf den Plan. „Sportengagements haben heute eine ganz persönliche Färbung bekommen, die sich von den sozial vorgebahnten Mustern früherer Zeiten deutlich unterscheiden“, erklärte Baur. Diese „Sportkarrieren" früherer Zeiten beschrieb er dabei mit dem Eintritt eines Jungen (und etwas seltener Mädchens) in einen Fußball-, Turn-, Schwimm- oder Leichtathletikverein,
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‘Anything wrong?
Parks und Naherholungsgebiete galten früher als Orte des geselligen und gesellschaftlichen Flanierens sowie der erholsamen Spaziergänge in der freien Natur. Heute haben sie sich großteils in Sportareale verwandelt, auf denen die Radler die Jogger gefährden - von den wenigen, noch verbliebenen Spaziergängern ganz zu schweigen. Zeichnung: vi
Hielt seine Antrittsvorlesung: der Sportwissenschaftier Professor Dr. Jürgen Baur. Foto: Rüffert
dem derjenige dann für gewöhnlich auch längere Zeit treu blieb.
Heute dagegen dominierten zufällige Vereinsbeitritte, Mehrfachmitgliedschaften und Fluktuationen. Sollte das Ergebnis gar ein bindungsarmer „Sporthopper“ als neuer Sportlertypus sein, der in seinem „Umherhoppen“ genauso wenig Erfüllung findet wie der femsehgewohnte „Channel-Hopper"? Jürgen Baur legte sich bei der Antwort darauf nicht fest. Er zeigte vielmehr einerseits auf, daß die unter Soziologen geführte Individualisierungsdebatte auch für die Analyse der Sportengagements eine wichtige Rolle spielt, die „gepuzzelte Sportbiographie“ demnach als ein Teil der für moderne Gesellschaften so typischen Differenzierungs- und Plura- lisierungsprozesse zu sehen ist: Genauso, wie Lebensläufe destandardisiert würden, lösten sich die Sportbiographien aus ihrer sozial vorgespurten Bahn.
Doch andererseits betonte der Sportwissenschaftler auch eine berechtigte Skepsis gegenüber radikalisierten Individualisierungsängsten: Da stets nur mit vorgefertigten Elementen biographisch gebastelt würde, gingen alle Individualisierungen stets mit neuer Institutionalisierung Hand in Hand, könne der Einzelne also doch wieder „nur“ zwischen vorgeformten Sportprogrammen und somit Rahmenbedingungen wählen.
Von diesem Spannungsfeld ausgehend, so der Leiter des Arbeitsbereichs Sport und Gesellschaft, möchten er und seine Mitarbeiter nun ihre besondere Aufmerksamkeit den Sportengagements und -biographien im Kontext der ostdeutschen Lebensverhältnisse widmen. Mit Hilfe theoretischer Differenzierungen und empirischer Arbeit sollen die in Professor Baurs Antrittsvorlesung angedeuteten Zusammenhänge dadurch überprüft und - wenn möglich - entschlüsselt werden.
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PUZ 15/94
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