CAMPUS
POTSDAM/GERMANY - POTSDAM/NEW YORK
Dr. Schnoor berichtet über andere akademische Sitten in „Potsdam/N.Y."
Das „Potsdam College“ der State Uni- versity of New York in den USA und die Universität Potsdam haben nicht nur ihren Namen gemeinsam. Vielmehr besteht seit Dezember 1993 auch ein Kooperationsvertrag zwischen den beiden Institutionen, der durch mittlerweile recht rege Austauschbeziehungen mit Leben erfüllt wird. Dazu beigetragen hat auch Dr. Rainer Schnoor aus dem Institut für Anglistik und Amerikanistik der Philosophischen Fakultät I, der im folgenden über seine „Potsdam-Erfahrungen“ in der Stadt berichtet, die Anfang des 19. Jahrhunderts durch einen amerikanischen Land-Agenten gegründet wurde. Die Namen für diese Orte entnahm er der Weltkarte, weshalb sich auch Potsdam/New York in traulicher Nähe zu Bombay, Madrid, Canton, Copenhagen, Stockholm und Lisbon befindet:
„Etwas eigenartig war mir kurz vor Kursbeginn doch zumute:
Am Potsdam College der State University of New York (SUNY) sollte und wollte ich im Sommersemester ein Seminar zur Geschichte der USA nach dem II. Weltkrieg unterrichten.
Wußten nicht schon die alten Griechen, daß es unnötig sei,
Eulen nach Athen zu tragen und die Engländer, daß es überflüssig wäre, Kohlen nach Newcastle zu transportieren?
Doch da hatte alles schon seinen Lauf genommen, und für fünf Wochen saßen 18 amerikanische Studenten, z.T. Hauptfächer der Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft, für zwei Stunden pro Tag in meinem Seminar. Die meisten von ihnen hatten vor allem die 70er und 80er Jahre schon bewußt und aufmerksam erlebt. Das war für mich erst einmal die Garantie, daß ich eine Menge lernen würde.
Sehr bald spürte ich aber auch ihr Interesse an meiner Lesart der amerikanischen Geschichte und meiner Lebenserfahrung in der früheren DDR. Nach vorsichtigem, gegenseitigen Herantasten war bald das Eis gebrochen. Schnell entwickelte sich ein Dialog über persönliche Erfahrungen und Meinungen in zwei sehr unterschiedlichen Welten, über Klischees und den Versuch, sie abzubauen. Ganz besonders aufmerksam waren sie, wenn es z.B. um die „östliche" Sicht auf den Kalten Krieg, den McCarthyismus, den Vietnam-Krieg und die Reagan-Jahre ging.
Plötzlich fand ich mich in der Rolle eines Moderators wieder, der zwischen den oft hart aufeinanderstoßenden Thesen vermitteln mußte. Von ganz links bis patriotisch - konservativ war an Studentenmeinungen alles vertreten.
Auf Überraschungen vielfältiger Art mußte man ständig gefaßt sein, sich auf ungewohnte Bedingungen einstellen. Schnell gewöhnte ich mich daran, bei offenen Seminarraum -Türen und Lärm auf den Gängen zu unterrichten. Nur beim ersten Mal war ich noch erstaunt, wenn jemand mitten im Seminar eine Cola holen ging oder, bei einsetzendem Regen, schnell nach Hause fuhr, um die Fenster zu schließen. Andere Länder, andere akademische Sitten. Kaum jemand außer mir war verwundert über die Anfrage eines Studenten, ob er sein Seminar-Referat auch per Kassettenrecorder abspielen könne. Why not?
Nach etwa einer Woche hatten beide Seiten etwas gelernt: die Studenten, daß dies kein Zuhör-Kurs, sondern ein Lese- und Diskussions-Kurs sein sollte, bei dem es eben nicht ausreichte, schon mal irgendwie irgendetwas davon gehört zu haben, wenn man mitdiskutieren wollte. Ich mußte begreifen, daß alle Theorie grau ist und des Lebens goldener Baum grüner als die Bücherweisheit. Das war nützlich für alle.
Mit meiner etwas härteren Notengebung waren einige Studenten nicht so recht einverstanden, und es gab so manche Diskussion um die Noten A, B oder C. Das ist verständlich, wenn man erfährt, daß ein Unterschied von 0,2 oder 0,3 über die Zulassung
zu weiterführenden Studien entscheiden kann. Aber „excellent" ist nun mal „exzellent" und „good“ ist „gut“ und nicht ehrenrührig. Die meisten Hochschulen in den USA, so erklärte mir Prof. William C. Merwin, der Präsident (also Rektor des College), müssen gegenwärtig einen Slalom-Kurs fahren: einerseits müssen sie Standards in Ausbildung und Benotung bewahren, andererseits sind sie gezwungen, bei überall sinkenden Studentenzahlen und Geldmangel durch Attraktivität und Liberalität um Studenten zu ringen.
Zum Abschluß des Fünf-Wochen-Kurses bekam ich ein Kompliment, das mich ganz besonders freute. Er hätte, so sagte mir der Student Matthew Petersen, mit einem langweiligen Sommersemester gerechnet - und das sei nicht eingetreten. Also größtenteils Zufriedenheit, wie sie auch meine Vorgängerinnen von der Uni Potsdam am Potsdam College erlebt haben und bescheinigt bekamen. Verbunden war das Ganze mit der Einladung durch das „Office of Continuing Education", doch möglichst bald wiederzukommen, dann für ein Semester oder ein Jahr. Dabei geholfen, mit den Tücken der Objekte und den Besonderheiten einer anderen Bürokratie fertig zu werden, haben während der gesamten Zeit mehrere Personen. Erheblichen AnteU daran hatten Dr. Lora Lunt, die sich um die internationalen Belange des Potsdam College kümmert, und ihr Ehemann, Dr. Richard Lunt. Sie waren der Mittelpunkt eines ganzen Geflechts von freundlichem Entgegenkommen. Bald mußten wir, d.h. meine Familie und ich, Kalender führen, um allen Picknick-, Ausflugs- und Dinner-Einladungen entsprechen zu können. Unsere vorsichtigkritischen Bemerkungen zum Brot aus USA- Supermarkets resultierten in einem regelrechten „Network" von Spenden hausgebackenen Brotes.
Eine solche Gastfreundschaft bringt aber auch die selbstverständliche und angenehme Verpflichtung mit sich, Gleiches hier zu bieten. Denn auch hier können am Anfang Schlüssel-Fragen zu wahren Schlüsselfragen werden. Hilfestellungen, auch für am Austausch mit dem Potsdam College Interessierte, würde ich deshalb gerne geben - ebenso wie Antje Bürger vom Akademischen Auslandsamt."
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COLLEGE
of the State University of New York
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Andere Länder - andere akademische Sitten: Diese Erfahrung machte Dr. Rainer Schnoor aus dem Institut für Anglistik und Amerikanistik der Philosophischen Fakultät I aufsehr angenehme Art und Weise an dem „Potsdam-College" der State University of New York. Foto: Schnoor
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