Heft 
(1.1.2019) 15
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CAMPUS

POTSDAM/GERMANY - POTSDAM/NEW YORK

Dr. Schnoor berichtet über andere akademische Sitten inPotsdam/N.Y."

DasPotsdam College der State Uni- versity of New York in den USA und die Universität Potsdam haben nicht nur ihren Namen gemeinsam. Vielmehr be­steht seit Dezember 1993 auch ein Ko­operationsvertrag zwischen den beiden Institutionen, der durch mittlerweile recht rege Austauschbeziehungen mit Leben erfüllt wird. Dazu beigetragen hat auch Dr. Rainer Schnoor aus dem Institut für Anglistik und Amerikanistik der Philosophischen Fakultät I, der im folgenden über seinePotsdam-Erfah­rungen in der Stadt berichtet, die An­fang des 19. Jahrhunderts durch einen amerikanischen Land-Agenten gegrün­det wurde. Die Namen für diese Orte entnahm er der Weltkarte, weshalb sich auch Potsdam/New York in trauli­cher Nähe zu Bombay, Madrid, Canton, Copenhagen, Stockholm und Lisbon be­findet:

Etwas eigenartig war mir kurz vor Kursbeginn doch zumute:

Am Potsdam College der State University of New York (SUNY) sollte und wollte ich im Som­mersemester ein Seminar zur Geschichte der USA nach dem II. Weltkrieg unterrichten.

Wußten nicht schon die alten Griechen, daß es unnötig sei,

Eulen nach Athen zu tragen und die Engländer, daß es überflüssig wäre, Kohlen nach Newcastle zu transportieren?

Doch da hatte alles schon sei­nen Lauf genommen, und für fünf Wochen saßen 18 amerika­nische Studenten, z.T. Haupt­fächer der Geschichte, Sozio­logie und Politikwissenschaft, für zwei Stunden pro Tag in meinem Seminar. Die meisten von ihnen hatten vor allem die 70er und 80er Jahre schon be­wußt und aufmerksam erlebt. Das war für mich erst einmal die Garantie, daß ich eine Menge lernen würde.

Sehr bald spürte ich aber auch ihr Interesse an meiner Lesart der amerikanischen Ge­schichte und meiner Lebenserfahrung in der früheren DDR. Nach vorsichtigem, gegensei­tigen Herantasten war bald das Eis gebro­chen. Schnell entwickelte sich ein Dialog über persönliche Erfahrungen und Meinun­gen in zwei sehr unterschiedlichen Welten, über Klischees und den Versuch, sie abzu­bauen. Ganz besonders aufmerksam waren sie, wenn es z.B. um dieöstliche" Sicht auf den Kalten Krieg, den McCarthyismus, den Vietnam-Krieg und die Reagan-Jahre ging.

Plötzlich fand ich mich in der Rolle eines Moderators wieder, der zwischen den oft hart aufeinanderstoßenden Thesen vermitteln mußte. Von ganz links bis patriotisch - kon­servativ war an Studentenmeinungen alles vertreten.

Auf Überraschungen vielfältiger Art mußte man ständig gefaßt sein, sich auf ungewohn­te Bedingungen einstellen. Schnell gewöhn­te ich mich daran, bei offenen Seminarraum -Türen und Lärm auf den Gängen zu unter­richten. Nur beim ersten Mal war ich noch erstaunt, wenn jemand mitten im Seminar eine Cola holen ging oder, bei einsetzendem Regen, schnell nach Hause fuhr, um die Fen­ster zu schließen. Andere Länder, andere akademische Sitten. Kaum jemand außer mir war verwundert über die Anfrage eines Stu­denten, ob er sein Seminar-Referat auch per Kassettenrecorder abspielen könne. Why not?

Nach etwa einer Woche hatten beide Seiten etwas gelernt: die Studenten, daß dies kein Zuhör-Kurs, sondern ein Lese- und Diskussi­ons-Kurs sein sollte, bei dem es eben nicht ausreichte, schon mal irgendwie irgendetwas davon gehört zu haben, wenn man mitdis­kutieren wollte. Ich mußte begreifen, daß alle Theorie grau ist und des Lebens goldener Baum grüner als die Bücherweisheit. Das war nützlich für alle.

Mit meiner etwas härteren Notengebung waren einige Studenten nicht so recht ein­verstanden, und es gab so manche Diskus­sion um die Noten A, B oder C. Das ist ver­ständlich, wenn man erfährt, daß ein Unter­schied von 0,2 oder 0,3 über die Zulassung

zu weiterführenden Studien entscheiden kann. Aberexcellent" ist nun malexzel­lent" undgood istgut und nicht ehren­rührig. Die meisten Hochschulen in den USA, so erklärte mir Prof. William C. Merwin, der Präsident (also Rektor des College), müssen gegenwärtig einen Slalom-Kurs fahren: einer­seits müssen sie Standards in Ausbildung und Benotung bewahren, andererseits sind sie gezwungen, bei überall sinkenden Stu­dentenzahlen und Geldmangel durch Attrak­tivität und Liberalität um Studenten zu rin­gen.

Zum Abschluß des Fünf-Wochen-Kurses be­kam ich ein Kompliment, das mich ganz be­sonders freute. Er hätte, so sagte mir der Student Matthew Petersen, mit einem lang­weiligen Sommersemester gerechnet - und das sei nicht eingetreten. Also größtenteils Zufriedenheit, wie sie auch meine Vorgän­gerinnen von der Uni Potsdam am Potsdam College erlebt haben und be­scheinigt bekamen. Verbun­den war das Ganze mit der Einladung durch dasOffice of Continuing Education", doch möglichst bald wieder­zukommen, dann für ein Se­mester oder ein Jahr. Dabei geholfen, mit den Tücken der Objekte und den Besonder­heiten einer anderen Bürokra­tie fertig zu werden, haben während der gesamten Zeit mehrere Personen. Erhebli­chen AnteU daran hatten Dr. Lora Lunt, die sich um die in­ternationalen Belange des Potsdam College kümmert, und ihr Ehemann, Dr. Richard Lunt. Sie waren der Mittel­punkt eines ganzen Geflechts von freundlichem Entgegen­kommen. Bald mußten wir, d.h. meine Familie und ich, Kalender führen, um allen Picknick-, Ausflugs- und Dinner-Einladungen entsprechen zu können. Unsere vorsichtig­kritischen Bemerkungen zum Brot aus USA- Supermarkets resultierten in einem regel­rechtenNetwork" von Spenden hausge­backenen Brotes.

Eine solche Gastfreundschaft bringt aber auch die selbstverständliche und angeneh­me Verpflichtung mit sich, Gleiches hier zu bieten. Denn auch hier können am Anfang Schlüssel-Fragen zu wahren Schlüsselfragen werden. Hilfestellungen, auch für am Aus­tausch mit dem Potsdam College Interessier­te, würde ich deshalb gerne geben - ebenso wie Antje Bürger vom Akademischen Aus­landsamt."

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of the State University of New York

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Andere Länder - andere akademische Sitten: Diese Erfahrung machte Dr. Rainer Schnoor aus dem Institut für Anglistik und Amerikanistik der Philosophischen Fakultät I aufsehr angenehme Art und Weise an demPotsdam-College" der State University of New York. Foto: Schnoor

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