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Professor Sturzbecher zur Tagung „Familie und Kindheit im Wandel"
Um die Lebensbedingungen von Familien und Kindern wird es auf einer internationalen Tagung des An-Institutes für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung an der Universität gehen. Abb.: br.
Zum zweiten Mal in diesem Jahr wird das An-Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung (IFK) e. V. gemeinsam mit der Universität Potsdam eine wissenschaftliche Konferenz veranstalten. Nach der vielbeachteten Konferenz „Jugend in der Krise? - Ohnmacht der Institutionen?“ werden sich vom 14. bis 17. Dezember 1994 Wissenschaftler aus 14 Ländern zur Internationalen Potsdamer Konferenz „Familie und Kindheit im Wandel“ treffen. Im Rahmen dieser Konferenz sollen die Lebensbedingungen von Familien und Kindern diskutiert werden, um Möglichkeiten zur Verbesserungen ihrer Lebenssituationen aufzuzeigen. Zur Erforschung dieser Lebensbedingungen soll künftig auch das neugegründete Interdisziplinäre Zentrum für Jugend- und Sozialisationsforschung der Universität Potsdam beitragen. Im Vorfeld der Konferenz sprach Regine Derdack für die PUZ mit Dr. Dietmar Sturzbecher, Direktor des IFK und Geschäftsführer des Zentrums, der auch die mit großem Interesse aufgenommene Studie „Jugend in Brandenburg 93“ verfaßt hat.
PUZ: Nicht nur in Deutschland zeigten sich in den letzten Jahren eine Reihe von Problemen, von denen Kinder, Jugendliche und Familien sowie nicht zuletzt Pädagogen betroffen sind. Auf dem Tagungsprogiamm stehen Berichte aus verschiedenen Ländern, die auf internationale Dimensionen derartiger Probleme hin weisen. Um welche Probleme handelt es sich? -
Sturzbecher: Die Referentenliste zeigt vor allem Gäste aus den osteuropäischen Ländern und aus den USA. In den osteuropäischen Ländern sind, ähnlich wie im Osten Deutschlands, in den letzten Jahren gesellschaftliche Systeme zerfallen und damit traditionelle Netzwerke zur Unterstützung vor allem für Kinder und Jugendliche zerbrochen. Kriminelle und obdachlose Straßenkinder in großer Zahl gehören heute zum Bild mancher osteuropäischen Metropole. Eine früher nicht gekannte Armut, minimale Entwicklungschancen und unzureichende gesellschaftliche Hilfen zur Bewältigung dieser Probleme in einer wachsenden Bevölkerungsgruppe sind Indizien für eine Krise in vielen Ländern, die nicht nur ökonomische Dimensionen hat. Derartige Entwicklungstendenzen finden sich auch in den USA oder Deutschland, wenn sie auch noch weniger gravierende Folgen zeitigen. Gerade in den neuen Ländern Deutschlands existieren genügend
Beispiele in unserer Umgebung für eine „neue Armut“ in Familien, der wir oft hilflos gegenüberstehen. Der Grund für die Hilflosigkeit liegt nicht nur in der Neuartigkeit der ökonomischen Situation, sondern auch darin, daß wir viel zu wenig über die psychologischen Mechanismen wissen, mittels derer sich diese und andere Lebensbedingungen auf die Entwicklung von Kindern auswirken. Dieser Frage trägt auch der Ansatz der Konferenz Rechnung, der soziologische, psychologische und politische Aspekte beinhaltet.
PUZ: Auf dem kürzlich in Potsdam beendeten Weltkongreß des „Vereins der Erzieher gefährdeter Jugend“ wurde festgestellt, daß sich Eltern und andere Erzieher nicht als Manager von Krisen - eine einheitliche Krise wurde ohnehin verneint - versuchen sollten. Es sei nicht ihre Aufgabe, gesellschaftliche Defizite abzudecken, doch Kinder und Jugendliche benötigen Hüfe. Wie kann solche Hilfe aussehen?
Sturzbecher: Ich teile die von Ihnen angesprochene Auffassung nicht. Aus meiner Sicht gehören Krisen, egal ob es sich dabei um individuelle, familiale oder gesellschaftliche Krisen handelt, zum Leben und stellen nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance dar. Wenn wir daran denken, wieviele Ehen zerbrechen oder daß der Verlust des Arbeitsplatzes immer mehr zu den alltäglichen Normalitäten gehört, so wird die zwingende Notwendigkeit deutlich, Kindern und Jugendlichen Fähigkeiten zu vermitteln, mittels derer sie Krisen entwicklungsfördernd meistern können. Was für die Bewältigung familialer Krisen gilt, ist auch für gesellschaftliche zutreffend. Gerade unter dem Einfluß bedrohlicher Lebensumstände müssen Kinder und auch Erwachsene lernen, Interessen stärker zu artikulieren, Alternativen zur Durchsetzung von Interessen zu entwickeln und schließlich Lösungen mittels gesellschaftlich akzeptierter Strategien auszuhandeln. Dies sind Voraussetzungen für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme, die von Jugendgewalt bis zum Familienlastenausgleich reichen.
PUZ: Im Zuge des Zusammenbruchs der DDR sind auch viele Strukturen und Institutionen im Bereich der Kinder- und Jugend
betreuung zerbrochen. Dieses aus ökonomischen Zwängen resultierende Zerbrechen wird heute oft mit pädagogischen Argumenten gerechtfertigt, die zuweilen im Rahmen einer wenig differenzierten Ost-West-Ausein- andersetzung ausgetauscht werden. Sie haben kürzlich gesagt, daß in diesem Zusammenhang pseudowissenschaftliche Aussagen entstanden sind, die einen realistischen Rückblick verstellen. Würden Sie ein paar Beispiele und daraus resultierende Konsequenzen nennen?
Sturzbecher: Wahrscheinlich hatte ich die Stellungnahme des Kölner Universitätsprofessors Dr. Dr. J. Niermann zur Identitätsfindung von Jugendlichen in den neuen Bundesländern im Auge, die dieser anläßlich einer Anhörung des Deutschen Bundestages abgegeben hat. Aber derartige, offensichtlich falsche und spekulative Aussagen stellen aus meiner Sicht heute kein Problem mehr dar. Bedauerlich finde ich vielmehr, daß angesichts fehlender methodisch solider vergleichender Analysen von Sozialisationsprozessen unter DDR-Bedingungen die Forschungsdefizite heute notgedrungen durch Spekulationen ersetzt werden. Diese Spekulationen finden sich weniger als „Forschungsbericht", sondern eher als subjektive Vorurteile, die sich bis in die wissenschaftliche Diskussion erstrecken.
Zu den umstrittenen Positionen gehören zum Beispiel das Ausmaß der Bevormundung von Eltern durch Pädagogen in der DDR oder das Verhältnis von kognitiver und sozialer Erziehung und Bildung in den Kindergärten. Die aus meiner Sicht bedauerlichen Folgen der an sich sicher dringend notwendigen Diskussion sind beispielsweise, daß die Lehrer aus ihrer freizeit- und familienpädagogischen Verantwortung gedrängt wurden oder eine zielgerichtete Förderung von Vorschulkindern unter kognitiven und sozialen Aspekten aufgrund der „Verschulungsdiskussion" in mancher Kita kaum geleistet wird.
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PUZ 15/94