Heft 
(1.1.2019) 15
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CAMPUS

FÜR VERLÄSSLICHKEIT, KOMMUNIKATIONSMÖGLICHKEITEN UND ENTSCHEIDUNGSRÄUME

Professor Sturzbecher zur TagungFamilie und Kindheit im Wandel"

Um die Lebensbedingungen von Familien und Kindern wird es auf einer inter­nationalen Tagung des An-Institutes für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung an der Universität gehen. Abb.: br.

Zum zweiten Mal in diesem Jahr wird das An-Institut für angewandte Fami­lien-, Kindheits- und Jugendforschung (IFK) e. V. gemeinsam mit der Universi­tät Potsdam eine wissenschaftliche Konferenz veranstalten. Nach der viel­beachteten KonferenzJugend in der Krise? - Ohnmacht der Institutionen? werden sich vom 14. bis 17. Dezember 1994 Wissenschaftler aus 14 Ländern zur Internationalen Potsdamer Kon­ferenzFamilie und Kindheit im Wan­del treffen. Im Rahmen dieser Kon­ferenz sollen die Lebensbedingungen von Familien und Kindern diskutiert werden, um Möglichkeiten zur Verbes­serungen ihrer Lebenssituationen auf­zuzeigen. Zur Erforschung dieser Le­bensbedingungen soll künftig auch das neugegründete Interdisziplinäre Zen­trum für Jugend- und Sozialisationsfor­schung der Universität Potsdam beitra­gen. Im Vorfeld der Konferenz sprach Regine Derdack für die PUZ mit Dr. Dietmar Sturzbecher, Direktor des IFK und Geschäftsführer des Zentrums, der auch die mit großem Interesse aufge­nommene StudieJugend in Branden­burg 93 verfaßt hat.

PUZ: Nicht nur in Deutschland zeigten sich in den letzten Jahren eine Reihe von Proble­men, von denen Kinder, Jugendliche und Familien sowie nicht zuletzt Pädagogen be­troffen sind. Auf dem Tagungsprogiamm ste­hen Berichte aus verschiedenen Ländern, die auf internationale Dimensionen derartiger Probleme hin weisen. Um welche Probleme handelt es sich? -

Sturzbecher: Die Referentenliste zeigt vor allem Gäste aus den osteuropäischen Län­dern und aus den USA. In den osteuropäi­schen Ländern sind, ähnlich wie im Osten Deutschlands, in den letzten Jahren gesell­schaftliche Systeme zerfallen und damit tradi­tionelle Netzwerke zur Unterstützung vor allem für Kinder und Jugendliche zerbrochen. Kriminelle und obdachlose Straßenkinder in großer Zahl gehören heute zum Bild mancher osteuropäischen Metropole. Eine früher nicht gekannte Armut, minimale Entwicklungs­chancen und unzureichende gesellschaftl­iche Hilfen zur Bewältigung dieser Probleme in einer wachsenden Bevölkerungsgruppe sind Indizien für eine Krise in vielen Ländern, die nicht nur ökonomische Dimensionen hat. Derartige Entwicklungstendenzen finden sich auch in den USA oder Deutschland, wenn sie auch noch weniger gravierende Folgen zeitigen. Gerade in den neuen Län­dern Deutschlands existieren genügend

Beispiele in unserer Umgebung für eine neue Armut in Familien, der wir oft hilflos gegen­überstehen. Der Grund für die Hilf­losigkeit liegt nicht nur in der Neuar­tigkeit der ökono­mischen Situation, sondern auch dar­in, daß wir viel zu wenig über die psychologischen Mechanismen wis­sen, mittels derer sich diese und andere Le­bensbedingungen auf die Entwicklung von Kindern auswirken. Dieser Frage trägt auch der Ansatz der Konferenz Rechnung, der so­ziologische, psychologische und politische Aspekte beinhaltet.

PUZ: Auf dem kürzlich in Potsdam beende­ten Weltkongreß desVereins der Erzieher gefährdeter Jugend wurde festgestellt, daß sich Eltern und andere Erzieher nicht als Manager von Krisen - eine einheitliche Krise wurde ohnehin verneint - versuchen sollten. Es sei nicht ihre Aufgabe, gesellschaftliche Defizite abzudecken, doch Kinder und Ju­gendliche benötigen Hüfe. Wie kann solche Hilfe aussehen?

Sturzbecher: Ich teile die von Ihnen ange­sprochene Auffassung nicht. Aus meiner Sicht gehören Krisen, egal ob es sich dabei um individuelle, familiale oder gesellschaft­liche Krisen handelt, zum Leben und stellen nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance dar. Wenn wir daran denken, wievie­le Ehen zerbrechen oder daß der Verlust des Arbeitsplatzes immer mehr zu den alltägli­chen Normalitäten gehört, so wird die zwin­gende Notwendigkeit deutlich, Kindern und Jugendlichen Fähigkeiten zu vermitteln, mit­tels derer sie Krisen entwicklungsfördernd meistern können. Was für die Bewältigung familialer Krisen gilt, ist auch für gesell­schaftliche zutreffend. Gerade unter dem Einfluß bedrohlicher Lebensumstände müs­sen Kinder und auch Erwachsene lernen, Interessen stärker zu artikulieren, Alternati­ven zur Durchsetzung von Interessen zu ent­wickeln und schließlich Lösungen mittels ge­sellschaftlich akzeptierter Strategien auszu­handeln. Dies sind Voraussetzungen für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme, die von Jugendgewalt bis zum Familienlasten­ausgleich reichen.

PUZ: Im Zuge des Zusammenbruchs der DDR sind auch viele Strukturen und Institu­tionen im Bereich der Kinder- und Jugend­

betreuung zerbrochen. Dieses aus ökonomi­schen Zwängen resultierende Zerbrechen wird heute oft mit pädagogischen Argumen­ten gerechtfertigt, die zuweilen im Rahmen einer wenig differenzierten Ost-West-Ausein- andersetzung ausgetauscht werden. Sie ha­ben kürzlich gesagt, daß in diesem Zusam­menhang pseudowissenschaftliche Aussa­gen entstanden sind, die einen realistischen Rückblick verstellen. Würden Sie ein paar Beispiele und daraus resultierende Konse­quenzen nennen?

Sturzbecher: Wahrscheinlich hatte ich die Stellungnahme des Kölner Universitätspro­fessors Dr. Dr. J. Niermann zur Identitäts­findung von Jugendlichen in den neuen Bun­desländern im Auge, die dieser anläßlich ei­ner Anhörung des Deutschen Bundestages abgegeben hat. Aber derartige, offensichtlich falsche und spekulative Aussagen stellen aus meiner Sicht heute kein Problem mehr dar. Bedauerlich finde ich vielmehr, daß ange­sichts fehlender methodisch solider verglei­chender Analysen von Sozialisationsprozes­sen unter DDR-Bedingungen die Forschungs­defizite heute notgedrungen durch Spekula­tionen ersetzt werden. Diese Spekulationen finden sich weniger alsForschungsbericht", sondern eher als subjektive Vorurteile, die sich bis in die wissenschaftliche Diskussion erstrecken.

Zu den umstrittenen Positionen gehören zum Beispiel das Ausmaß der Bevormundung von Eltern durch Pädagogen in der DDR oder das Verhältnis von kognitiver und sozialer Erzie­hung und Bildung in den Kindergärten. Die aus meiner Sicht bedauerlichen Folgen der an sich sicher dringend notwendigen Diskus­sion sind beispielsweise, daß die Lehrer aus ihrer freizeit- und familienpädagogischen Verantwortung gedrängt wurden oder eine zielgerichtete Förderung von Vorschulkin­dern unter kognitiven und sozialen Aspekten aufgrund derVerschulungsdiskussion" in mancher Kita kaum geleistet wird.

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PUZ 15/94