KEIN NEUER KONIGSWEG
Doktorandentagung des Arbeitskreises „Historische Anthropologie"
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Eine Annäherung an die Praxis der Sozial- und Alltagsgeschichte mit Hilfe eines Mikrogeschichtskonzeptes strebt der Arbeitskreis „Historische Anthropologie“ an. Zu Quellenüberlieferungen zählen dabei auch Selbstzeugnisse, die zur Rekonstruktion von Lebenszusammenhängen beitragen sollen.
Foto: Eckardt
„Historische Anthropologie“ ist der Name eines seit 1993 existierenden Arbeitskreises von Doktorandinnen und Doktoranden verschiedener Geistesund Sozialwissenschaften.
Mitte September 1994 trafen sich die Gründer dieses Arbeitskreises - 17 junge Wissenschaftler - zu einer Tagung an der Universität Potsdam, die vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg gefördert wurde.
Aus diesem Anlaß sprach Di. Barbara Eckardt für die PUZ mit Christoph Mötsch, einem der Initiatoren und Doktorand in der Max-Planck-Arbeitsgrup- pe „Ostelbische Gutsherrschaft als sozialhistorisches Phänomen“ an der Universität Potsdam.
PUZ: Das Konzept der Mikrogeschichte stand im Mittelpunkt Ihrer Diskussion über die Historische Anthropologie. Welches waren die inhaltlichen Schwerpunkte der Tagung in Potsdam?
Mötsch: Das Ziel mikrogeschichtlicher Untersuchungen besteht darin, mittels verfügbarer Quellen ein möglichst detailliertes Bild zu entwickeln und soziale Verhältnisse am konkreten Beispiel nachvollziehbar zu machen. Im Gegensatz zu den bisherigen Leitbegriffen wie Mentalität, Alltag und Historische Anthropologie, die bei der Neuorientierung der Sozialgeschichte von Bedeutung sind, zeichnet sich die Mikrogeschichte dadurch aus, eine vergleichsweise konkret entwickelte und praktisch umsetzbare Forschungsmethode zur Verfügung zu stellen. Gegenstand der Tagungsdiskussion war die Frage, ob das Konzept der Mikrogeschichte nicht erneut der Illusion erliege, im Kleinen „die“ historische Wahrheit wiederzufinden, oder, noch überspitzter, ob sich Historiker nicht als Götter im Kleinen mißverstehen?
Sich in die Mütze ... zu schneuzen ist Bauernart; und sich in die Hand zu schneuzen... ist auch nicht viel eleganter. Den Nasenschleim jedoch mit einem Taschentuch aufzunehmen,... das ist wahre Höflichkeit.
(Fernand Braudel, Sozialgeschichte)
Was die Verallgemeinerungsfähigkeit der Ergebnisse von Mikrostudien betrifft, sollte diese nicht durch eine Subsumierung unter die großen Strukturmodelle, sondern durch ein Verfahren, das die amerikanische Historikerin N.Z. Davis „dezentralisiertes Vergleichen“ nannte, angestrebt werden. Dies ermöglicht,
Ergebnisse in Beziehung zu anderen zu setzen, ohne deren Eigentümlichkeiten einer übergeordneten Beziehungsgröße zu opfern. PUZ: Vorgestellt wurden auf der Tagung auch Ergebnisse laufender Arbeiten, die Einblicke in Detaüs der Forschung ermöglichen. So beschäftigte sich ein Beitrag mit Lebenswelten von Frauen aus Münster im 16. Jahrhundert. Wie gelang es beispielsweise, den Lebensweg einer Dienstmagd zur Prostituierten zu rekonstruieren?
Mötsch: Gerichtsakten und Verhörprotokolle zu Klagen wegen Unzucht und Kindesaussetzung erlauben einen Einblick in die Lebenssituation von ledigen Müttern aus den Unterschichten. Am Einzelfa]l wurde nachvollzogen, daß sich die Lebensweise in einem Feld von Hausgewerbe, Diensttätigkeit und Gelegenheitsprostitution bewegte.
PUZ: In Ihrem Diskussionsbeitrag setzten Sie sich anhand ausgewählter Monografien mit Problemen des mikrohistorischen Untersuchungsverfahrens auseinander. Zu welchen Ergebnissen gelangten Sie dabei?
Mötsch: Die Rekonstruktion von kleinräumigen Lebenszusammenhängen wie z.B. eines Dorfes, eines Hauses, einer Familie oder einer Person setzen eine dichte Quellenüberlieferung voraus. Dazu zählen Kirchenbücher, Gerichtsakten, Verwaltungsakten und Selbstzeugnisse. So kann die mikrohistorische Un
tersuchung eines Hochtals in den Pyrenäen vor 200 Jahren zeigen, daß Nationen nicht in den Hauptstädten, sondern an den Grenzen entstanden sind.
PUZ: Ist es denn überhaupt möglich, mit dem Konzept der Mikrogeschichte vergangene Gesellschaften und Lebenswelten nachzuvollziehen?
Mötsch: Ein wichtiges Ergebnis der Abschlußdiskussion war die Feststellung, mit dem Konzept der Mikrogeschichte zwar nicht über einen neuen Königsweg zur Rekonstruktion vergangener Gesellschaften und Lebenswelten, dafür aber über ein Angebot an perspektivischen, methodischen und darstellerischen Zugängen zu verfügen, das in der Praxis der Sozial- und AUtagsgeschichte der Frühen Neuzeit eine eklektische Rezeption, im positiven Wortsinn, finden kann. Eindeutiges Verdienst der Mikrogeschichte ist die systematische Relativierung oder Widerlegung liebgewordener Makrostrukturen. Mikrogeschichte kann dadurch zu einem Wandel unseres Geschichtsbildes beitragen, indem ihre Resultate die Einheit von Geschichte zur Disposition stellen und somit der bemerkenswerten Homogenität als auch der Komplexität vergangener Gesellschaften gerechter werden.
PUZ: Herr Mötsch, herzlichen Dank für das Gespräch.
PUZ 15/94
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