Heft 
(1.1.2019) 15
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KEIN NEUER KONIGSWEG

Doktorandentagung des ArbeitskreisesHistorische Anthropologie"

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Eine Annäherung an die Praxis der Sozial- und Alltagsgeschichte mit Hilfe eines Mikrogeschichts­konzeptes strebt der ArbeitskreisHistorische Anthropologie an. Zu Quellenüberlieferungen zählen dabei auch Selbstzeugnisse, die zur Rekonstruktion von Lebenszusammenhängen beitragen sollen.

Foto: Eckardt

Historische Anthropologie ist der Name eines seit 1993 existierenden Ar­beitskreises von Doktorandinnen und Doktoranden verschiedener Geistes­und Sozialwissenschaften.

Mitte September 1994 trafen sich die Gründer dieses Arbeitskreises - 17 jun­ge Wissenschaftler - zu einer Tagung an der Universität Potsdam, die vom Ministerium für Wissenschaft, For­schung und Kultur des Landes Branden­burg gefördert wurde.

Aus diesem Anlaß sprach Di. Barbara Eckardt für die PUZ mit Christoph Mötsch, einem der Initiatoren und Dok­torand in der Max-Planck-Arbeitsgrup- peOstelbische Gutsherrschaft als sozialhistorisches Phänomen an der Universität Potsdam.

PUZ: Das Konzept der Mikrogeschichte stand im Mittelpunkt Ihrer Diskussion über die Historische Anthropologie. Welches wa­ren die inhaltlichen Schwerpunkte der Ta­gung in Potsdam?

Mötsch: Das Ziel mikrogeschichtlicher Un­tersuchungen besteht darin, mittels verfüg­barer Quellen ein möglichst detailliertes Bild zu entwickeln und soziale Verhältnisse am konkreten Beispiel nachvollziehbar zu ma­chen. Im Gegensatz zu den bisherigen Leit­begriffen wie Mentalität, Alltag und Histori­sche Anthropologie, die bei der Neuorientie­rung der Sozialgeschichte von Bedeutung sind, zeichnet sich die Mikrogeschichte da­durch aus, eine vergleichsweise konkret ent­wickelte und praktisch umsetzbare For­schungsmethode zur Verfügung zu stellen. Gegenstand der Tagungsdiskussion war die Frage, ob das Konzept der Mikrogeschichte nicht erneut der Illusion erliege, im Kleinen die historische Wahrheit wiederzufinden, oder, noch überspitzter, ob sich Historiker nicht als Götter im Kleinen mißverstehen?

Sich in die Mütze ... zu schneuzen ist Bauernart; und sich in die Hand zu schneuzen... ist auch nicht viel elegan­ter. Den Nasenschleim jedoch mit ei­nem Taschentuch aufzunehmen,... das ist wahre Höflichkeit.

(Fernand Braudel, Sozialgeschichte)

Was die Verallgemeinerungsfähigkeit der Er­gebnisse von Mikrostudien betrifft, sollte die­se nicht durch eine Subsumierung unter die großen Strukturmodelle, sondern durch ein Verfahren, das die amerikanische Historike­rin N.Z. Davisdezentralisiertes Vergleichen nannte, angestrebt werden. Dies ermöglicht,

Ergebnisse in Beziehung zu anderen zu set­zen, ohne deren Eigentümlichkeiten einer übergeordneten Beziehungsgröße zu opfern. PUZ: Vorgestellt wurden auf der Tagung auch Ergebnisse laufender Arbeiten, die Ein­blicke in Detaüs der Forschung ermöglichen. So beschäftigte sich ein Beitrag mit Lebens­welten von Frauen aus Münster im 16. Jahr­hundert. Wie gelang es beispielsweise, den Lebensweg einer Dienstmagd zur Prostituier­ten zu rekonstruieren?

Mötsch: Gerichtsakten und Verhörprotokolle zu Klagen wegen Unzucht und Kindesausset­zung erlauben einen Einblick in die Lebens­situation von ledigen Müttern aus den Unter­schichten. Am Einzelfa]l wurde nachvollzo­gen, daß sich die Lebensweise in einem Feld von Hausgewerbe, Diensttätigkeit und Gele­genheitsprostitution bewegte.

PUZ: In Ihrem Diskussionsbeitrag setzten Sie sich anhand ausgewählter Monografien mit Problemen des mikrohistorischen Untersu­chungsverfahrens auseinander. Zu welchen Ergebnissen gelangten Sie dabei?

Mötsch: Die Rekonstruktion von kleinräumi­gen Lebenszusammenhängen wie z.B. eines Dorfes, eines Hauses, einer Familie oder ei­ner Person setzen eine dichte Quellenüber­lieferung voraus. Dazu zählen Kirchenbücher, Gerichtsakten, Verwaltungsakten und Selbst­zeugnisse. So kann die mikrohistorische Un­

tersuchung eines Hochtals in den Pyrenäen vor 200 Jahren zeigen, daß Nationen nicht in den Hauptstädten, sondern an den Grenzen entstanden sind.

PUZ: Ist es denn überhaupt möglich, mit dem Konzept der Mikrogeschichte vergange­ne Gesellschaften und Lebenswelten nach­zuvollziehen?

Mötsch: Ein wichtiges Ergebnis der Ab­schlußdiskussion war die Feststellung, mit dem Konzept der Mikrogeschichte zwar nicht über einen neuen Königsweg zur Rekon­struktion vergangener Gesellschaften und Lebenswelten, dafür aber über ein Angebot an perspektivischen, methodischen und dar­stellerischen Zugängen zu verfügen, das in der Praxis der Sozial- und AUtagsgeschichte der Frühen Neuzeit eine eklektische Rezep­tion, im positiven Wortsinn, finden kann. Ein­deutiges Verdienst der Mikrogeschichte ist die systematische Relativierung oder Wider­legung liebgewordener Makrostrukturen. Mikrogeschichte kann dadurch zu einem Wandel unseres Geschichtsbildes beitragen, indem ihre Resultate die Einheit von Ge­schichte zur Disposition stellen und somit der bemerkenswerten Homogenität als auch der Komplexität vergangener Gesellschaften ge­rechter werden.

PUZ: Herr Mötsch, herzlichen Dank für das Gespräch.

PUZ 15/94

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