Heft 
(1.1.2019) 03
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Kultur

PUTZ 3/99

Musikalische Gaumenfreuden

Aus der Geschichte synästhetischer Erfahrungen

Kürzlich entdeckte ich in den

Buchhandlungen eine neue| Reihe. Sie heißtCucina&|

Musica und versprichtein Fest der Sinne. Ich blättere in

dem prächtigen BandRossini.|

Eine kulinarisch-musikalische Biographie mit Rezepten und Klassik-CD.

Das Eingangszitat des großen Maestro lautet:Der Magen ist der Kapellmeister, der das gro­ße Orchester unserer Leiden­schaften regiert und in Tätigkeit versetzt. Den leeren Magen ver­sinnbildlicht das Fagott oder die Pikkoloflöte, wie er vor Mißver­gnügen brummt oder vor Ver­langen gellt. Der volle Magen ist dagegen die Triangel des Ver­gnügens oder die Pauke der Freude...Essen, Lieben, Singen und Verdauen, das sind wahr­haftig die vier Akte der komi­schen Oper, die das Leben heißt und die vergehen wie der Schaum einer Flasche Champa­gner. Wer sie verrinnen läßt, ohne sie genossen zu haben, ist ein vollendeter Narr. Werde ich also beim Genuß von Tourne­dos ä la Rossini demLargo al Factotum aus demBarbier von Sevilla lauschen, gesungen von einem wohlbeleibten Pava­rotti?

Während ich darüber nachden­ke, wird mir klar, was mich bei dieser Vorstellung zögern läßt. Es ist die Erinnerung an Theo­dor W. Adorno, der mein Ver­hältnis zur Musik entscheidend geprägt hat. Er war ein leiden­schaftlicher Purist, ein geradezu priesterlicher Verfechter der Reinheit der hohen Musik. Nichts verabscheute er mehr als die Vorstellung eines bürgerli­chen Eßzimmers, wo zuRa­diogedudel im Hintergrund Suppe und Sonntagsbraten im Familienkreise verzehrt werden. Musikhören war für ihn ein Akt der Meditation, der alle Sinne beansprucht, den Körper, die Phantasie, den Geist und die Seele. Das reale und materielle Nebeneinander konkurrieren­der Sinnesreize, derOhren­schmaus oder diemusikali­sche Gaumenfreude, hatten in

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diesem Konzept keinen Platz. Das war nicht immer so.

Ursprünglich war die Musik eine ganz und gar soziale Kunst, und sie konkurrierte ganz selbstverständlich mit anderen Sinnesfreuden in einem ästhe­tisch-praktischen Gesamtkunst­werk. In der griechischen und römischen Antike hielt man die Sklaven an, die großen Sympo­sien musikalisch zu begleiten. Petronius hat uns in seinem Gastmahl des Trimal­chio dafür ein bered­tes. litera­rischess Zeugnis hinterlas­sen. Laut singend trägt: bei ihm der Koch die kunstvoll arrangier­ten Platten in den Spei­sesaal. Auch die Liebes­Mahlzeiten der früh­christlichen Gemeinden waren von Musik begleitet. Musik als Unterhal­tung zu festlichen Mahlzeiten, vielleicht aber auch als Ablen­kung vom puren Genuß der Nahrungsaufnahme, ist aus dem alten Ägypten ebenso bekannt wie aus dem biblischen Juden­tum. Das setzte sich in der hö­fischen Kultur der Renaissance und des Barock fort. Die Bedeu­tung der Musik in diesen Epo­chen gründete sich auf ihre her­vorragende Stellung innerhalb der höfischen Repräsentation, wo die festliche Mahlzeit einen bedeutenden Platz hat. Aus bildlichen Darstellungen des burgundischen Hofes oder vom Hochzeitsmahl des Herzogs Wilhelm V. von Bayern, das durch die Hofkapelle des Italie­ners Orlando di Lasso musika­lisch begleitet wurde, wissen wir sogar, welche Kompositionen

man den einzelnen Gängen un­terlegte. DieTafelmusik wird zu einer eigenen Gattung. Für die fürstliche Tafel zu kompo­nieren und zu musizieren, ge­hörte zum festen Bestandteil der Anstellungsverträge von Hofmusikern, wie uns Georg Philip Telemann in seiner Auto­biographie berichtet. MozartsDon Giovanni hul­digt im Finale des 2. Aktes noch dem Brauch der Tafelmusik.

Köstlich duften und schmecken in unseren Ohren auch heute noch die musikalischen Titel des

17. Jahrhunderts. In Telemanns Musique de table von 1733 sind die einzelnen Stücke zu Gängen geordnet. Damit ist die Tafelmusik von der Beglei­tung selbst zur Hauptmahlzeit avanciert. Erst seit der Klassik verträgt sich der Autonomiean­spruch von Musik nicht mehr mit ihrer Einbindung in andere lebenspraktische Kontexte. Die ernste Musik beginnt auf die sogenannteUnterhaltungsmu­sik herabzublicken und sie als minderwertig einzuordnen. Musik wird fortan in Konzertsä­len, an öffentlichen Orten zele­briert, pur und unbehelligt von anderen konkurrierenden For­men des sinnlichen Genusses. Kenner schließen die Augen. Sie versagen sich der Gegenwart der

Selbst|

Welt, um sich dem reinen Ge­nuß der Klänge hinzugeben. Keiner würde es mehr wagen, wie zu Stendhals Zeiten den störte das übrigens auch in den Logen der Mailänder Scala während der Opernaufführung zu soupieren.

In Berlin gibt es teure Fein­schmecker-Tempel, die Menüs zu Originalkompositionen er­finden und festlich servieren. MozartsKleine Nachtmusik zu Salzburger Nockerln, den abschließenden Mocca zu Bachs Kaffee-Kantate und die astrono­mische Rechnung zu Beetho­vensWut über den verlorenen Groschen. Und doch zieht es mich nicht sehr dorthin. Die

| synästhetische Verschmelzung

verschiedener Sinnesgenüsse vollzieht sich für mich im Raum des Imaginären, im Reich der Phantasie. Sie ist, trotz Oper

| und Filmmusik, in meinem

Empfinden ein Werk der Einbil­dungskraft, der metaphorischen Assoziation, nicht das Produkt realer Gleichzeitigkeit. Man kann MendelssohnsLieder ohne Worte schmecken und riechen, ihre Klangfarbe sehen, sie alsOhrenschmaus goutie­ren; dazu Passendes verspeisen möchte ich nicht. Eher schon halte ich es mit Boris Vian, dem Kult-Autor der jungen Existen­tialisten-Generation in den sechziger Jahren. Der Roman­cier und Jazz- Trompeter kreiert in seinem BuchL&cume des jours..(Der ‚Schaum der Tage) ein Piano, das dank des Zaubers linguistisch-metaphori­scher Transsubstantiation Jazz­Melodien in köstliche Cocktails verwandelt. Während auf den Tasten von einem potentiellen KaufinteressentenMisty Mor­ning intoniert wird, entspringt den Klängen wie durch Zauber­hand ein duftendes Getränk, perlgrau und pfefferminzgrün, gewürzt mit einer kaum spürba­ren Prise Pfeffer und, einem kaum merklichen Anflug von Rauchgeschmack. Ich springe mit Vergnügen in den Text und proste dem Autor zu.

Prof. Dr. Helene Harth,

Institut für Romanistik