für die Phantasie des Lesers weit produktiver. Nur Turgenjew wäre Harte in der „Schärfe der Beobachtung alles Erscheinenden, wie alles inneren Lebens“ und in Bezug auf die „phrasenlose Wahrhaftigkeit der Empfindung“ ebenbürtig, und Harte ginge in seiner Konzentriertheit noch weiter wie der große Russe. (Fontane hat sich, wie schon bemerkt, höchstwahrscheinlich dieses Vergleiches bei Pietsch erinnert, als er seinen Hinweis auf die russische Literatur sowohl im Bret-Harte-Entwurf wie im Schema der „Kritischen Wanderungen“ niederschrieb.) Pietsch findet beredte Worte für das Zeugnis, das Bret Harte bei der Geburt einer neuen Kultur ablegt, für die reine, nicht sentimentalisierende, nicht reflektierende Darstellungskraft Hartes, für sein Vertrauen in die Tüchtigkeit des Menschen, für seinen Humor. Pietsch überspannt seinen Bogen allerdings auch: der Vergleich zwischen Harte und den Dombaumeistem des Mittelalters (!) ist nicht überzeugend, und der für Harte vorteilhafte Vergleich mit Dickens und Turgenjew hat der Nachwelt weniger standgehalten als Fontanes kritischere Sicht.
Vor der Abfassung von Fontanes eigenem Entwurf liegen noch die scheinbar verlorengegangenen Briefe von Rodenberg, den Fontane mit wohl guten Gründen „zu den unbedingten Verehrern des Californiers“ 31 zählt. Da es uns darauf ankommt, zu ermitteln, ob Fontane in der deutschen Bret-Harte-Rezeption eine bahnbrechende Rolle spielt, ersparen wir uns nach Fontanes Entwurf verfaßte Rezensionen und Aufsätze. Es soll aber erwähnt werden, daß kein geringerer als Gottfried Keller im Sommer 1874 auch Bret Harte las und zweimal sehr anschaulich darüber berichtet hat: (An Emil Kuh)
28. Juli 1874
.. . Bret Harte habe ich bis jetzt nur wenig gelesen; es machte mir alles den Eindruck des fertig Geriebenen und Ganzen in seiner Art, das sagt, was es sagen will. Vielleicht ist’s auch das Lied der Zukunft, mit Revolver und Schnapsfiasche im Gürtel; allein ich muß gestehen, daß diese Tabakskauersprache mir noch nicht recht ein- gehen will. Dies unter uns; ich habe noch zu wenig davon gelesen, um urteilen zu können. 32
Das Urteil des „fertig Geriebenen“ entspricht Fontanes .Zurechtgemachtem 1 und will, zusammen mit der Bemerkung, daß Bret Hartes Prosa sagt, was sie sagen will, wohl zu verstehen geben, daß sie trotz aller formellen Vollkommenheit kein Werk ersten Ranges ist, weil sie keine Reserven hat, und das erinnert wiederum an Fontanes Schlußfolgerung, daß Harte die Weltliteratur nicht weiterbringen wird.
Am 9. November desselben Jahres schreibt Keller noch einmal an denselben Adressaten:
Die Novelle von Bret Harte hatte ich auch gelesen und mit Verwunderung gesehen, daß es die reine Pariser Sensationsromantik ist mit interessanten Falschspielern, korrumpierten treulosen Schönheiten etc. etc. Immerhin ist es aber ein ganzer Kerl, der was kann, den aber die Neuheit des Stofflichen vergrößert, wo es sich um die Goldgräberatmosphäre handelt. 33
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