... Er sagte, daß ihn alles tief ergriffen habe, besonders aber die „Outcasts of Poker Flat“, 40 denn solche Figuren gab’ es in beträchtlicher Zahl in den Diggings. Alles in allem aber fände er doch, daß der Erzähler um etliche Grade zu nachsichtig und zu gelinde vorgegangen sei. Läge es so, wie Bret Harte die Dinge geschildert, so wären alle diese sonderbaren Leute nichts als gescheiterte Prachtmenschen, bei denen je nach der Abstammung, der Gentleman oder der Hidalgo oder der Chevalier in jedem Augenblick wieder zum Vorschein kommen müsse. Was er indessen persönlich kennengelernt habe, das seien, wenn auch mit gelegentlichen Ausnahmen, nur Rowdies gewesen, Rowdies, die mit dem Bowiemesser besser als mit dem Degen Bescheid gewußt hätten. Mit einem Wort, er fände, daß die kalifornische Natur vorzüglich getroffen, aber die kalifornische Menschheit doch allzusehr verherrlicht sei. So vornehm seien die Leute nicht. 41
Lehnerts Aussage stellt eine Mischung dar. Sie ist einerseits eine Rekapitulation der Ansichten, die Fontane zehn bis fünfzehn Jahre früher in seinem Entwurf geäußert hatte: 42 tiefe Bewegung durch das gelungen gefühlvolle, die Meisterstücke, zu denen Fontane ausdrücklich „The Luck of Roaring Camp“ und „The Outcasts of Poker Flat“ gezählt hatte, Lob für das Deskriptive, Skrupel über die Wahrhaftigkeit und Plausibilität der Noblesse in zweifelhafter Gestalt. Andrerseits aber spricht Lehnert auch pro domo, gerät deshalb „in eine gewisse Verlegenheit“ und will sich „dem Sprechenmüssen entziehen“, 43 denn er ist ja selber ein „Outcast“, hat, wie sein Kamerad L’Hermite, eine schwere Tat auf dem Kerbholz, und steht nun vor einem Gewissensdilemma: wenn er die dunklen Figuren Bret Hartes, die eine „Vergangenheit“ haben und sich zu rehabilitieren suchen, zu sehr verdammt, verdammt er sich selbst; wenn er sie zu sehr in Schutz nimmt, kann ihm vorgehalten werden, er sei nicht Manns genug, seine eigene Schuld zu konfrontieren und verdiene die Rettung nicht: in beiden Fällen läuft er Gefahr, die von ihm geliebte Ruth zu verlieren. Man versteht also sein Zögern. „Als er aber kein Entrinnen sah, nahm er sich ein Herz“ 1 ' und zieht sich mit so viel Rechtschaffenheit aus der Affäre, daß Fontane durch diese Rekapitulation seiner eigenen Ansichten aus der Mitte der 70er Jahre noch dazu eine literarische Prämie für Quitt gewinnt: eine Gewissensprüfung, die seiner Hauptfigur (Lehnert Menz) au [erlegt wird und die er so gut besteht, daß das traurige Ende dem Leser umso näher geht — und das will der Erzähler ja gerade erreichen.
XV
Wir stehen am Ende unserer Betrachtungen. Fontanes Bret-Harte-Entwurf hat dreierlei Bedeutung: völkerpsychologisch, literaturhistorisch, und literaturkritisch. Er ist ein Teil des Amerikabildes Fontanes, das heißt eine Alternative für Preußen, für Deutschland, für Europa, ein Quantum seines Weltbildes. Innerhalb dieser Kulturalternative der neuen Welt stellt die amerikanische Literatur für Fontane ein relativ bescheidenes Areal dar. in dem aber Bret Harte die Hauptrolle spielt. Literarhistorisch ist die
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