Thomas Profazi: Wahrnehmungswiderstände und Behinderungsbewältigung bei Körperbehinderten
rakteristika, Formanten) und visuelle Streßindikatoren(u. a. Lidschlagrate).
Wahrnehmungsabwehr bei Körperbehinderten
Bezogen auf die Zielgruppe der Körperbehinderten stellt sich die Frage, welche autonome Reaktion berechtigterweise als ein relevanter Indikator für Behinderungsbewältigung definiert werden kann. Den unseres Wissens einzigen Hinweis aus der einschlägigen Literatur zur Psychologie bei Körperbehinderten lieferte eine tachistoskopische Versuchsanordnung von Lipp et al.(1968), die(u. a.) auf der Grundlage des’perceptual-defense-paradigm’ Verdrängungsmechanismen bei Körperbehinderten („denial of disability”) messen wollte. Dieses Paradigma geht bis auf tiefenspychologische Vorüberlegungen zurück (vgl. determinierte/tendenziöse Apperzeption) und wurde nach der experimentellen Absicherung von systematischen Variationen bei Wahrnehmungsleistungen durch Postman, Bruner und McGinnies(1948) als Wahrnehmungsabwehr konzeptualisiert. Danach werden von einer Person bedrohlich oder angstauslösend erlebte Stimuli(„threatening or emotionally disturbing”) signifikant langsamer wahrgenommen als neutrale Stimuli.
Lipp et al.(1968) benutzten diese vieldiskutierte Kernaussage des perceptual-defense-Paradigmas(vgl. Jenkins 1957) als Basis, um die visuelle Wahrnehmungsgeschwindigkeit von 30 köperbehinderten(KB) und 30 nichbehinderten(NB) Probanden in einem Tachistoskop-Versuch zu überprüfen. Gezeigt wurden 15 Dias die sichtbar körperbehinderte(KBDias) und 15 Dias die nichtbehinderte (NB-Dias) Personen darstellten. Gemessen wurde die Anzahl der Erkennungsversuche pro Dia und Vp. Die Autoren nahmen an, daß die KB-Dias von den KB-Vpn aufgrund von Verdrängungsmechanismen bedrohlicher erlebt würden als von den NB-Vpn; die KB-Gruppe würde daher mit erhöhter Wahrnehmungsabwehr reagieren. Sie fanden ihre
Hypothese durch die Ergebnisse der Untersuchung voll bestätigt. Die Gruppe der KB wies eine signifikant höhere Differenz zwischen KB-Dias und NB-Dias auf als die Gruppe der NB.
Fragestellung und Hypothese
Eine ungeprüfte Übernahme dieser Er
gebnisse als methodische Ausgangsbasis
für weiterführende empirische Untersuchungen(z.B. Identifikation problematischer Bewältigungsstile innerhalb einer
KB-Stichprobe) erscheint nicht ratsam.
Die allgemeine Fragestellung dieser Stu
die resultiert daher aus dem Bedürfnis
nach einer Replikation der Untersuchung von Lipp et al.(1968). Drei Kritikpunkte erhärten dabei die Notwendigkeit einer
Replikation.
— Die grundlegende Annahme bei Lipp et al., daß KB die tachistoskopische Darbietung von KB-Dias als angsterregender bzw. bedrohlicher empfinden als nichtbehinderte Vpn, ist nicht ohne weiteres plausibel oder eindeutig.
— Mag diese Annahme für’problematische Bewältiger’ noch gerechtfertigt sein, so kann und darf das jedoch nicht auch für’integrative(erfolgreiche) Bewältiger” gelten; d.h. eine globale Gruppenaufteilung nach KB und NB scheint zu undifferenziert.
— Die Art der statistischen Auswertung bei Lipp et al. ist ihrer Untersuchungsfagestellung nicht voll angemessen(vgl. Methodenkritik).
Es bleibt daher zu überprüfen, ob tachi
stoskopische Untersuchungen auf der
Basis des perceptual-defense-Paradig
mas eine geeignete Möglichkeit darstel
len zur Erfassung von Copingmechanismen bei Körperbehinderten im Sinne einer relevanten autonomen Reaktion.
Bezogen auf die Ausgangsfragestellung,
ob die bei Lipp et al. berichteten Ergeb
nisse zur Wahrnehmungsabwehr bei KB replizierbar sind, läßt sich also folgende
Nullhypothese formulieren: Körperbe
hinderte unterscheiden sich hinsichtlich
der Relation der Wahrnehmungsge
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987
schwindigkeiten für das Erkennen von KB-Dias und NB-Dias nicht signifikant von Nicht-Behinderten.
Methode Datenerfassung
Die Untersuchungsstichprobe bestand aus 30 nichtbehinderten(NB) und 36 körperbehinderten(KB) Probanden im Alter von 16;9 bis 24;11(x= 20;6). Die beiden Gruppen wurden hinreichend parallelisiert nach Geschlecht, Alter, Schulbildung und vorwiegendem Aufenthaltsort(Großinstitution/zu Hause). Bei der KB-Gruppe handelte es sich um eine anfallende Stichprobe traumatisch körperbehinderter Pbn aus den Reha-Zentren Neuwied, Maria Veen, Bigge-Olsberg und Volmarstein; die NBGruppe setzte sich zusammen aus Dortmunder Zivildienstleistenden und Berufsschülern sowie Azubis des BBW Dortmund-Oespel. Nach ärztlichen Angaben waren in der KB-Gruppe folgende Behinderungsarten vertreten: Querschnittlähmungen(3), sonstige Lähmungen{(11), Fehlstellungen(5), Amputation(3), innere Verletzungen(11), Sonstige(3).
Das Dia-Material wurde aus einem Pool von 80 vorausgewählten Farbdias durch die Einschätzungen von 3 unabhängigen Ratern(Sonderpäd. Studenten höherer Semester) gewonnen. Kriterien des Ratings waren formal-photographische(u.a. Klarheit, Bildkomposition) und inhaltliche Aspekte(Bekanntheitsgrad, Beschreibbarkeit, Prägnanz und Eindeutigkeit). Für die besten 30 Dias erstellten dann in einem zweiten Durchlauf 5 Rater(3 Studenten, 2 Berufsschüler) unabhängige Merkmalsbeschreibungen(die fünf wesentlichsten Merkmale pro Bild); in der abschließenden Auswertung dieses Ratings wurde eine Reduktion auf die 24 am besten geeigneten Dias vorgenommen. 12 Dias stellten sichtbar körperbehinderte(KB-Dias) und 12 weitere Dias stellten nicht-behin
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