Thomas Profazi: Wahrnehmungswiderstände und Behinderungsbewältigung bei Körperbehinderten
Tab. 2: Häufigkeitsverteilung der dichotomisierten Regressionstransformation.
MD<0>00
KB-Gruppe(N= 36) 23 13
NB-Gruppe(N= 30) 7 23
DF=1 CHE pP< 0.001 = 10.855
y= beobachtete Anzahl der Erkennungsversuche für KB-Dias
Yy= geschätzte bzw. erwartete Anzahl der Erkennungsversuche für KB-Dias unter Zugrundelegung der beobachteten Anzahl der Erkennungsversuche für NB-Dias
geschätzten Wert für die beobachtete Anzahl der Erkennungsversuche für KB-Dias ermittelt. Das Vier-FelderCHF beträgt 10,855; p< 0.001.
Interpretation
Im Sinne der Nullhypothese waren keine bedeutsamen Unterschiede hinsichtlich der Relation der Wahrnehmungsgeschwindigkeit bei NB-Dias und KB-Dias in den beiden Untersuchungsgruppen KB und NB zu erwarten. Die Untersuchungsergebnisse zeigen jedoch hochsignifikante(0.1%-Niveau) Unterschiede zwischen beiden Gruppen, sodaß die Nullhypothese verworfen werden muß. Die KB-Gruppe benötigte sehr häufig weniger EV für KB-Dias als erwartet; die NB-Gruppe benötigte sehr häufig mehr EV für die KB-Dias als erwartet. In diametralem Gegensatz zu den Ergebnissen bei Lipp et al.(1968) scheinen nach dieser Replikation also nicht die körperbehinderten, sondern die nichtbehinderten Versuchspersonen mit Wahrnehmungsabwehr auf die bildliche Konfrontation mit Körperbehinderungen zu reagieren.
Diskussion und Schlußfolgerung
Zur Erklärung dieses diskrepanten Ergebnisses bieten sich zwei verschiedene
Diskussionsansätze an: Wird auf der Basis des perceptual-defense-Paradigmas argumentiert, so sind die hier erzielten Ergebnisse durchaus plausibel. Beispielsweise können sozialpsychologische Befunde zur Entstehung und Veränderung von Einstellungen bzw. Verhalten gegenüber Behinderten mit hoher Visibilität(Cloerkes 1985°, 1986) ohne weiteres einsichtig machen, warum gerade die Nicht-Behinderten die Konfrontation mit den KB-Dias(vielleicht) als bedrohlicher und angstauslösender erleben und daher mit erhöhter Wahrnehmungsabwehr reagieren. Andererseits stellt die Konfrontation mit einer KB für die körperbehinderten Pbn weit eher eine alltägliche Erfahrung dar, die möglicherweise also auch weniger bedrohlich erlebt wurde.(Alle körperbehinderten Pbn verfügten— wie auch diejenigen der Untersuchung von Lipp et al. — über Erfahrungen in Reha-Institutionen).
Aufgrund einiger meth. Kritikpunkte, die z. T. auch durch Erfahrungen bei der Durchführung des Versuchs erhärtet werden könnten, ergibt sich ein zweiter Diskussionsansatz, der allerdings den Rahmen des perceptual-defense-Paradigmas überschreitet. Unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Wahrnehmungspsychologie drängt sich beispielsweise die Frage auf, ob mit dem hier verwendeten Untersuchungsdesign überhaupt Wahrnehmungsabwehr gemessen wurde(vgl. Validität). Immerhin sind zur einwandfreien bildlichen Darstellung von Körperbehinderung bestimmte visuelle Signale unabdingbar(z. B. Rollstuhl) oder eine erhöhte Bildkomplexität erforderlich(z.B. Amputation, Dysmelie). Es ist denkbar, daß für die Wahrnehmungstätigkeit bezügl. der KB-Dias zentrale kritische Hinweisreize(„cues”) im optischen Speicher bei körperbehinderten Pbn besser repräsentiert sind und somit(entsprechende) visuelle Kognitionen günstiger beeinflussen(Neisser 1974). Die höhere Gefügigkeit des dargebotenen KB-Bildmaterials könnte also die Wahrnehmungsleistungen der KBPbn entscheidend beeinflußt haben. Weitere Faktoren, die einen gewissen
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987
Einfluß auf die Untersuchungsergebnisse genommen haben dürften, sind in der Problematik der Vergleichbarkeit von NB-Dias und KB-Dias, in der Notwendigkeit der Verbalisation des Wahrgenommenen und damit zusammenhängend in der Durchführungsobjektivität zu suchen.
Neben diesen beiden Erklärungsansätzen, die die Ergebnisse der Replikationsstudie beleuchten, müssen bezügl. der Unterschiede zu den Ergebnissen bei Lipp et al. weitere Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Hierzu zählt der Umstand, daß kein identisches Dia-Material verwendet werden konnte und die Tatsache, daß in beiden Studien die wichtige Variable„Art der Behinderungsbewältigung” bei der KB-Versuchsgruppe nicht kontrolliert wurde. Alle Aspekte der Diskussion führen letztlich zu der Schlußfolgerung, daß mit Bezug auf die übergreifende Untersuchungsfragestellung zunächst und ohne weiteres nicht davon ausgegangen werden kann, daß tachistoskopische Untersuchungen auf der Basis des„perceptualdefense-paradigm” eine geeignete Möglichkeit darstellen zur Erfassung von Copingmechanismen bei Körperbehinderten im Sinne einer autonomen Reaktion.
Ausblick
Die Einbeziehung geeigneter autonomer Reaktionen ist für eine Psychologie der Behinderungsbewältigung sicherlich ein fruchtbarer Ansatz. Unter Beibehaltung des Konzepts der Wahrnehmungsabwehr wäre dabei die Hypothese, daß NB die Konfrontation mit KB-Bildmaterial als besonders bedrohlich erleben, genauer zu überprüfen. Sehr interessante Untersuchungsdesigns(experimentell und in vivo) ließen sich dabei beispielsweise durch die Verwendung von„EyeMark-Rekordern” denken. Daneben könnten auch Anleihen aus der Streßforschung vielversprechende Zugangswege zu relevanten autonomen Reaktionen bezügl. Behinderungsbewältigung(Behinderung als Stressor) eröffnen. Immer böte sich dabei eine sorgfältigere Diffe
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