Johann Borchert/ Christel-Astrid Brucks: Der Einfluß eines Prüfungspraktikums auf das Unterrichts- und Erziehungsverhalten von Studenten
der Sonderpädagogik
Sonderschullehrer 1979,$ 16(5)). Die implizit formulierte Annahme, daß ein sonderpädagogisches Praktikum bei den Studierenden Handlungskompetenz zu steigern vermag, wurde bisher, wohl vor allem aufgrund weit überwiegend positiver Praktikumsbeurteilungen, als selbstverständlich richtig vorausgesetzt. Beobachtungs- und Beurteilungsfehler können die durch Betreuer und Mentoren vorgenommenen Effektivitätsbeurteilungen entscheidend beeinflußt haben; daher soll die Frage, ob Studenten der Sonderpädagogik ihr Erziehungsund Unterrichtsverhalten im Laufe eines Prüfungspraktikums entscheidend verbessern können, über eine methodisch angemessenere Zugehensweise geklärt werden. Da entsprechende empirische Überprüfungen bisher fehlen, erscheint es dringlich, Veränderungen während des sonderpädagogischen Praktikums vor allem auf der Verhaltensebene, aber auch auf der Erlebensebene zu untersuchen. Die vorliegende Erkundungsstudie soll folgende Fragestellungen beantworten:
1. Wird das Unterrichts- und Erziehungsverhalten von Lehrerstudenten der Sonderpädagogik während eines fünfwöchigen Prüfungspraktikums bedeutsam verändert?
2. Erleben Studenten ihren Praktikumsverlauf als effektiv?
3. Werden die Studenten, die ihren Praktikumsverlauf unterschiedlich effektiv erleben, auch in ihrem Unterrichts- und Erziehungsverhalten unterschiedlich eingeschätzt?
Methode
Die Untersuchung wurde im Rahmen eines fünfwöchigen Prüfungspraktikums an 19 verschiedenen Lernbehindertenschulen Schleswig-Holsteins durchgeführt. Die Stichprobe umfaßt 23 grundständig Studierende der Sonderpädagogik im 5. Semester(14 weibliche, 9 männliche Studenten), die ihr erstes sonderpädagogisches Praktikum absol
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vierten. In die Untersuchung wurden die Klassenstufen 1 bis 9 einbezogen.
Zur Erfassung des Unterrichts- und Erziehungsverhaltens wurde die Methode der Videoregistrierung gewählt— als der am ehesten angemessene Weg, reliable und valide Daten über das tatsächlich realisierte Verhalten zu gewinnen. Pro Vp wurden 4 Unterrichtsstunden aufgezeichnet, und zwar je 2 Stunden in der ersten und letzten Praktikumswoche. Um— zur Reduktion von Fehlervarianz — möglichst homogene Untersuchungsbedingungen herzustellen, sollten die Unterrichtsfächer der Anfangsmessung (1./2. Aufzeichnungsstunde; bei 21 Vpn 2 verschiedene Fächer, bei 2 Vpn 1 Fach) und der Endmessung(3./4. Aufzeichnungsstunde; bei 19 Vpn 2 verschiedene Fächer, bei 4 Vpn 1 Fach) möglichst übereinstimmen. Diese Übereinstimmung war(abgesehen von 2 Ausnahmen) bei 12 Vpn hinsichtlich beider Fächer und bei 9 Vpn hinsichtlich eines Faches gegeben. Die Aufzeichnungen wurden insgesamt auf die 1. bis 5. Unterrichtsstunde gelegt. Die jeweils für die Anfangs- und Endmessung gewählten Unterrichtsstunden stimmen hinreichend überein, so daß etwaige Zeitfehler vernachlässigbar sind. Aufgezeichnet wurden nur leistungsorientierte Fächer, wie z.B. Deutsch und Mathematik. Die teilnehmenden Studenten wurden darauf hingewiesen, daß die Aufzeichnungsstunden ohne zusätzlichen Aufwand bezüglich Unterrichtsvorbereitung und-durchführung abgehalten werden sollten.
Als Indikatoren des Erziehungs- und Unterrichtsverhaltens entschieden wir uns für folgende relativ gut operationalisierten Variablen(in Anlehnung an Kern(1979) und Tausch& Tausch (1979)):(1) Verständlichkeit,(2) Gesprächsführung/Fragetechnik,(3) Dirigierung-Lenkung,(4) Achtung-WärmeRücksichtnahme,(5) Echtheit. Die Einschätzung der Variablen wurde mit Hilfe S5-stufiger Beurteilungsskalen vorgenommen. Pro Unterrichtsstunde wurden 3 Sequenzen selegiert(Zeitstichproben aus der 10.—13., 25.—28. und 37.—40. Minute; Dauer: ca. 10 sec bis maximal 3
min). Die insgesamt 276 Sequenzen wurden in eine Zufallsabfolge gebracht und 10 trainierten unabhängigen Beurteilern zur Einschätzung vorgespielt. Die Prüfung auf signifikante Abweichungen zwischen einzelnen Beurteilern und/oder Beurteilergruppen hinsichtlich der Einschätzungen mittels einfacher Varianzanalyse und LSD Procedure(Hull& Nie 1981) ergibt für alle 5 Merkmale, daß keiner der 10 Beurteiler in seinen Einschätzungen durchgängig von den übrigen bedeutsam abweicht und somit für die weiteren Analysen ausgeschlossen werden müßte. Die zur Beurteilerübereinstimmung für alle beobachteten Merkmale des Lehrerverhaltens ermittelten a-Korrelationen(vgl. Bortz 1985) variieren zwischen.72 und ‚86.— Zusammenfassend kann folglich die Beurteilerzuverlässigkeit als für Forschungszwecke ausreichend hoch angesehen werden.
Zur Frage, ob die zu prüfenden Veränderungen während des Praktikums sich nicht nur auf der Ebene des Verhaltens, sondern auch auf der des Erlebens abbilden, wurde am Ende der Praktikumszeit an die Studenten ein Fragebogen zur perzipierten Effektivität des Praktikums ausgegeben. Das von uns entwickelte Verfahren enthält 8 Fragen zum Verlauf des Praktikums in folgenden Bereichen: (1) Kontakt: Qualität des Lehrer-Schüler-Kontakts und Sicherheit im Umgang mit den unterrichteten Schülern;(2) Unterricht: Effektivität der Unterrichtsvorbereitung, didaktische Fertigkeiten, angemessener Umgang mit schwierigen Unterrichtssituationen und insgesamt gegebene Fähigkeit zur Unterrichtung von Sonderschülern;(3) Betreuung: Wirksamkeit der Praktikumsbetreuung durch den sog. Betreuer(in der Regel ein Dozent) und den Mentor(Klassenlehrer der vom Studenten unterrichteten Klasse). Zu jeder Frage sind 3 Antwortalternativen vorgegeben, die unterschiedliche Ausprägungsgrade der perzipierten Effektivität beschreiben.(Beispiel:„Ihren Mentor haben Sie bezüglich des Praktikumserfolges als gar nicht hilfreich erlebt— wenig hilfreich erlebt— sehr hilfreich erlebt.”).
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987