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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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für Lernbehinderte

mieren(Möckel 1970; Wember 1986, 21-25). Neuere Theorieansätze hinge­gen bemühen sich um eine kritische In­tegration entwicklungspsychologischer Theorien und Befunde in die facheige­nen Entwürfe, wobei man sich vor allem von der Theorie Piagets positive Impulse für die sonderpädagogische Arbeit verspricht(vgl. Kanter 1970; Wendeler 1980; Schröder 1981; Kern 1983). Problematisch ist im Falle der Theorie Piagets jedoch das Modell der Ent­wicklungsstufen, das dem heutigen Stand der empirischen entwicklungspsy­chologischen Forschung nicht mehr ent­spricht und das innerhalb der Pädagogik leicht zu Fehlschlüssen im Sinne eines Entwicklung abwarten! stattEnt­wicklung fördern! führt(Nickel 1973). In Anlehnung an neuere Interpretatio­nen kann man jedoch Piagets Entwick­lungsstufen durchaus als idealtypische Beschreibungen von qualitativ unter­schiedlichen, intellektuellen Fähigkei­ten auffassen, die das Kind im Verlaufe seiner Entwicklung aktiv in einem konti­nuierlichen Aufbauprozeß erwirbt. Solch eine dimensionale Sichtweise der kognitiven Entwicklung täuscht nicht Homogenität innerhalb und Diskonti­nuität zwischen sog. Entwicklungsstufen vor, rückt neben der Suche nach abstrak­ten, strukturell isomorphen Ent­wicklungsuniversalien auch konkrete intra-und interindividuelle Ent­wicklungsdifferenzen und bereichsspe­zifische Verhaltensweisen wieder in den Blickpunkt des Forschers, und schließ­lich erhält in einem dimensionalen Ent­wicklungsmodell die Bedeutung von Umwelteinflüssen generell, insbesonde­re aber die Bedeutung von gezielten För­der- und Interventionsmaßnahmen, ei­nen weitaus höheren Stellenwert als in Piagets Modell der Epigenese(vgl. aus­führlich Wember 1986, 33-49 und 58­63).

Vor dem Hintergrund eines dimensiona­len Entwicklungsmodells und unter der Zielsetzung einer Entwicklung von ef­fektiven und rational begründeten son­derpädagogischen Interventionsformen, sollen im folgenden drei Fragen beant­wortet werden:

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1) Besteht ein Zusammenhang zwi­schen Lernbehinderung und der Entwicklung konkret-operatorischen Denkens?

2) Besteht ein Zusammenhang zwi­schen traditionellen Intelligenzma­ßen und den Leistungen bei operato­rischen Tests?

3) Besteht ein Zusammenhang zwi­schen der Entwicklung operatori­schen Denkens und der schulischen Leistungsentwicklung?

Die erste Frage stand schon im Mittel­

punkt einer Dissertation von Bärbel In­

helder aus dem Jahre 1943. Die Autorin untersuchte eine sehr heterogene Stich­probe von 159 geistigbehinderten Perso­nen im Alter von ca. 5 bis 52 Jahren(IQ:

35-104) mit verschiedenen Aufgaben

Piagets. Sie stellte fest, daß bei geistigbe­

hinderten Personen die gleiche Abfolge

von Entwicklungsstufen zu beobachten sei wie bei Nichtbehinderten, aber das

Entwicklungstempo sei vergleichsweise

verlangsamt, die Entwicklung komme

auf dem Niveau der konkreten Operatio­nen zum Stillstand und das Denken des behinderten Kindes scheine... seinen

Abschluß in einer Art unechtem Gleich­

gewicht zu finden, das durch eine

gewisse Zähflüssigkeit des Denkens ge­

kennzeichnet ist(Inhelder 1978, 253).

Inhelders Befunde halten durchaus heu­

tigen empirischen Erkenntnissen stand.

Mehr als 30 Studien, die im angloameri­

kanischen Sprachraum mit sog. mildly

bzw. educable mentally retarded chil­dren durchgeführt worden sind- eine

Personengruppe, die weitgehend Kan­

ters Gruppe dersonderschulbedürftig

Lernbehinderten mit deutlichem Intelli­

genzrückstand(Kanter 1977, 57 f.) ent­

sprechen dürfte- haben übereinstim­mend gezeigt: Die kognitive Ent­wicklung verläuft bei Kindern und Ju­gendlichen mit deutlichen Intelligenz­rückständen über die gleichen Ent­wicklungsstufen wie bei_nicht­behinderten Kindern, im Vergleich zum

Lebensalter jedoch verlangsamt und en­

det in der Regel auf der Stufe der

konkreten Operationen; formales Den­ken wird nur selten und nur in Anfängen beobachtet(vgl. Wilton& Boersma

Franz B. Wember: Empirische Befunde zum konkret-operatorischen Denken und schulischen Lernen bei Schülerinnen und Schülern der Schule

1974; Weisz& Zigler 1979; Weisz& Yea­tes 1981; Wember 1986, 107-111). Weni­ger eindeutig ist die Befundlage bei sog. learning disabled children, Schüler, die am ehesten mit der Gruppe der Lernbe­hinderten mit generalisierbaren Lern­störungen vergleichbar sind(vgl. Kanter 1977, 58). Zwar haben ältere Studien ver­meintliche Entwicklungsrückstände bei solchen Kindern aufgezeigt, aber diese Befunde konnten in neueren, metho­disch sorgfältiger angelegten Studien durchweg nicht repliziert werden(vgl. Wember 1986, 111-115).

In der deutschsprachigen sonderpädago­gischen Literatur liegen erst drei empiri­sche Arbeiten vor. Schröder untersuchte in seiner Dissertation(1975) die Denk­prozesse lernbehinderter Sonderschüler bei Problemlöseaufgaben. Zwar zielte Schröders Arbeit nicht darauf ab, die Gültigkeit von Piagets Theorie zu prü­fen, aber die Problemlöseaufgaben, die er verwendete, hatten teils Ähnlichkeit mit operatorischen Aufgaben sensu Pia­get: Herstellen einer Matrix, Bilderord­nen, Turm von Hanoi, Wortanalogien, Mosaik-Test. Die zwölf lernbehinderten Sonderschüler waren zwölf gleichaltri­gen Hauptschülern in dieser explorati­ven Studie leistungsmäßig unterlegen, eine qualitative Analyse der Lösungs­prozesse ergab ein relativ impulsives, starres und wenig differenziertes Lö­sungsverhalten auf seiten der Sonder­schüler.

Nay(1979) untersuchte dasnaturwis­senschaftliche Denken bei lernbehin­derten Sonderschülern, indem er- ähn­lich wie Piaget(1978)- von Kindern ver­schiedener Klassenstufen Erklärungen für physikalische bzw. chemische Sach­verhalte erfragte wie das Schwimmen von Körpern, die Entstehung eines Ge­witters, die Bewegung eines Automo­bils, die Oxidation von Metallen oder der Sauerstoffverbrauch einer Flamme. Nay klassifizierte die Schülerantworten an­hand einer siebenstufigen Skala, die von magisch-animistischem Denken bis hin zu differenziertem Kausaldenken reich­te. Beim Vergleich mit Kindern aus Grund-, Haupt- und Realschulen waren teils gravierende Entwicklungsrückstän­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987