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Franz B. Wember: Empirische Befunde zum konkret-operatorischen Denken und schulischen Lernen bei Schülerinnen und Schülern der Schule
für Lernbehinderte
de zu beobachten: Nur wenige Sonderschüler zeigten kritisch-reales Denken und Formen kausalen Denkens. Selbst naiv-reales Denken, das laut Autor von Kindern in Regelschulen durchschnittlich im 4./5. Schuljahr erreicht wird, wurde von den meisten Sonderschülern erst im 7. oder 8. Schuljahr erlangt. Salkowsky(1981) untersuchte das physikalisch-kausale Denken bei 80 lernbehinderten Sonderschülern und 77 altersgleichen Grund- und Hauptschülern der Jahrgangsstufen 3 bis 9 mit vier von Piagets klassischen Versuchen: Luft und Luftdruck, Zentrifugalkraft, Gewichts- und Volumeninvarianz. Die Antworten der Kinder ordnete er einem der vier von Piaget beschriebenen Stadien der Entwicklung kausalen Denkens zu. Zwar ließen sich bei ca. 25% der lernbehinderten Sonderschüler erste Formen formalen Denkens erkennen, insgesamt zeigten die Sonderschüler jedoch in geringerem Maße fortgeschrittenere Formen kausalen Denkens als die Regelschüler. Ihre Denkentwicklung erschien„... um ein bis zwei Jahre retardiert”(Salkowsky 1981, 76), und es traten wesentlich größere intra- und interindividuelle Leistungsdifferenzen bei den Lernbehinderten auf als bei den Kindern der Kontrollgruppe. Salkowskys Ergebnisse lassen wie die von Schröder und Nay einen negativen Zusammenhang zwischen schulisch-relevanten Lernstörungen und der Entwicklung operatorischen Denkens vermuten, aber Salkowskys Arbeit weist ebenso wie die beiden anderen Untersuchungen methodische Schwachpunkte auf, die vor allem in der ungeprüften Reliabilität der MeßBßinstrumente, der fraglichen Objektivität von Antwortzuordnungen zu vordefinierten Kategorien und in der unzureichenden statistischen Verarbeitung der Daten begründet sind. Da zudem die inkonklusive Befundlage der internationalen Forschungsliteratur zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine definitiven Aussagen über den kognitiven Entwicklungsstand von Schülern mit generalisierten Lernstörungen zuläßt, scheint im deutschen Sprachraum methodisch stringentere
Replikationsforschung angebracht, bei der Variablen des operatorischen Denkens mit objektiven, reliablen und validen Testinstrumenten operationalisiert und die standardisiert erhobenen Daten einer qualifizierten statistischen Analyse unterzogen werden. In diesem Zusammenhang wäre auch zu klären, inwieweit Daten über das konkret-operatorische Denken überhaupt eigenständig diagnostische Valenz zukommt, oder ob operatorische Tests- wie weiter oben in Frage 2 angesprochen- lediglich eine neue Variante traditioneller Intelligenzmessung sind. Traditionelle Intelligenztests liefern in erster Linie quantitative, produktorientierte Daten, die sich zur Ermittlung interindividueller und- mit Einschränkung- intraindividueller Differenzen eignen(vgl. Elkind 1969). Piaget hingegen wollte die Genese der Intelligenz rekonstruieren, d.h. er suchte die qualitativ unterschiedlichen kognitiven Operationen zu identifizieren, die dem Menschen im Verlaufe seiner Entwicklung zunehmend intelligentere Anpassungsleistungen ermöglichen. Entwicklungspsychologische Intelligenztests liefern folglich in erster Linie qualitative, prozeßorientierte Daten, die Aufschluß geben über den derzeitigen Entwicklungsstand eines Pb im Vergleich zu einer a priori formulierten, theoretisch begründbaren und im günstigsten Falle empirisch belegten Entwicklungsreihe. Schon gegen Ende der 50er Jahre begannen Forscher zu untersuchen, ob die genannten Unterschiede hinsichtlich Intelligenztheorie und Testkonstruktion in der Praxis zu beobachtbaren empirischen Differenzen führen. Es liegen bis heute ca. 20 Studien vor(vgl. Ries 1977; 1978), die gezeigt haben, daß zwischen traditionellen Intelligenzmaßen und Variablen des operatorischen Denkens korrelative Zusammenhänge geringer bis mittlerer Größe bestehen, die jedoch stark variieren: Die Koeffizienten sinken, wenn - vorrangig nonverbale Intelligenztests oder - nur Einzelaspekte operatorischen Denkens erfaßt werden, oder wenn
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987
- Überwiegend leistungsschwache Kinder die Stichprobe bilden(vgl. Swize 1972; Melnick, Bernstein& Lehrer 1974).
Faktorenanalytische Arbeiten(z. B. Stephens, McLaughlin, Miller& Glass 1972; DeVries 1974; Lunzer, Wilkinson& Dolan 1976) haben den von der Theorie her zu erwartenden, eigenständigen diagnostischen Beitrag Piaget’scher Verfahren wiederholt bestätigt: Operatorische Testverfahren bilden bei geringer bis mittlerer Überschneidung mit psychometrischen Intelligenzmaßen deutlich unterschiedliche Aspekte intellektuellen Leistungsvermögens ab. Inwieweit operatorischen Tests auch außerhalb des entwicklungspsychologischen Bezugsrahmens diagnostische Bedeutung zukommt, ist damit jedoch noch nicht geklärt.
Wenn die in Piagets Forschungen her
ausgearbeiteten kognitiven Strukturen
wirklich, wie in der Theorie behauptet, universelle Assimilationsschemata sind, die allen intellektuellen Leistungen zugrunde liegen, müßten sich Entwicklungsfortschritte in erhöhter schulischer
Leistungsfähigkeit niederschlagen.
Zahlreiche empirische Untersuchungen
haben diese theoretische Ableitung be
stätigt(vgl. zusammenfassend Ries
1977; Wember 1986, 129-141): Korrela
tionskoeffizienten, die in den meisten
Studien zwischen.40 und.60 schwank
ten, weisen auf reale Zusammenhänge
zwischen der Entwicklung operatorischen Denkens und der schulischen Leistungsentwicklung hin. Wie von der
Theorie Piagets her zu erwarten, beste
hen besonders starke Beziehungen zu
den mathematischen Grundfertigkeiten und den Fertigkeiten im rechnerischen
Problemlösen, tendenziell schwächer
ausgeprägt sind die Beziehungen zu den
sprachgebundenen Leistungen im Lesen und in der Rechtschreibung(vgl.
z.B. Almy, Chittenden& Miller 1966;
Goldschmid& Bentler 1968).
Angesichts der Stärke der korrelativen
Zusammenhänge überrascht nicht, daß
einige regressionsanalytische Studien
gezeigt haben, daß operatorische Diagnoseverfahren herkömmliche Intelli
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